Ästhetische Distanz ist auch ein Akt der Höflichkeit. Anne Weber hatte die französische Neurologin Anne Beaumanoir kennengelernt und sich quasi in deren Leben als Widerstandskämpferin gegen die Nazis und Unterstützerin der algerischen Befreiungsbewegung verliebt. Das Epos „Annette, ein Heldinnenepos“ ist letztlich Resultat dieser Begegnung. Anne Beaumanoir, die selbst eine Autobiographie verfasst hat, hat sich darin bei aller Freundschaft nur als literarische Fiktion wiedererkannt. Dass das Epos bald auf der Bühne landen würde, war zu erwarten. Doch was das Freie Werkstatt Theater daraus macht, nicht. Zwar geben sich die die drei Performer:innenMirka Ritter, Daniel Kuschewski, Brit Purwin alle clandestine Mühe, studieren akribisch den Stadtplan von Paris, machen Liebesgeschichten und Abtreibungen sowie die Einsamkeit der Untergrundarbeit erfahrbar – doch über der Inszenierung von Guido Rademachers liegt der Mehltau der bildungsbürgerlichen Einverleibung.
Anne Beaumanoirs Motive bleiben dabei weitgehend im Dunkeln. Und noch in den kritischsten Szenen dominiert letztlich eine moralische Selbstsicherheit, auf der richtigen Seite zu stehen. So „leistet“ sich Daniel Kuschewskis einen mit Augenzwinkern gespielten rassistischen Ausfall gegenüber dem Techniker Anil Tepe; und es wird die unsinnige Frage gestellt, ob man selbst wieAnne Beaumanoirhandeln würde, wenn Russland plötzlich in Deutschland einmarschierte. Da hilft am Ende auch nicht, dass die Perfomer:innen vom Techniker Brett für Brett „eingemauert“ werden, bis nur noch Videoaufnahmen von ihrer Bühnenexistenz zeugen. Es ist ein Abend, an dem Zweifel keinerlei Platz haben.
Annette, ein Heldinnenepos | R: Guido Rademachers | 17., 18., 19.11., 7.12. | Freies Werkstatt Theater | 0221 32 78 17
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