216 Millionen Menschen werden im Jahr 2050 wegen der Klimakatastrophe auf der Flucht sein, so die Prognose der Weltbank – aufgrund von Überschwemmungen, Dürren, Wirbelstürmen und Waldbränden. „216 Millionen“, so lautet der Titel des neuen Stückes von Lothar Kittstein, das der für seine Rechercheprojekte bekannte Regisseur Volker Lösch am Theater Bonn inszeniert. Es wäre ein wichtiges Stück – wenn es denn aufrütteln würde. Tut es aber nicht, weil die Emotionen an einigen entscheidenden Stellen zu kurz kommen. Und weil Lösch und Kittstein im Schauspiel Bad Godesberg streckenweise dem eigenen Thema entfliehen.
Wie bei Löschs Inszenierungen üblich, holt dieser auch für „216 Millionen“ Menschen auf die Bühne, die ihre Schicksale erzählen: Der queere Haitianer Pizzar Stanley Pierre, die mit elf Jahren im Iran zwangsverheiratete Afghanin Nadia Feyzi und ihre unterdrückte Tochter Kayci sowie Sadou Sow aus Guinea haben auf ihren jeweiligen Reisen nach Deutschland ohne Frage Schreckliches erlebt und sind in der Bundesrepublik in ein bürokratisches, monströses System gelangt. Sie alle berichten auch tatsächlich von den Folgen des Klimawandels, über den etwa im Iran nicht geredet werden darf und der vielen Familien ihre Existenzgrundlage raubt. Aber mit Ausnahme von Sow ist niemand ursächlich deswegen geflüchtet. Dennoch gesteht Lösch ihnen insgesamt 30 Minuten Redezeit zu und versucht gleichzeitig, durch chorisches Sprechen die einzelnen Geschichten für allgemeingültig zu erklären. Was nicht gelingt und stattdessen einen Großteil der Empathie des Publikums ins Leere laufen lässt.
Leider gelingt es auch dem Ensemble des Theater Bonn nicht, dieses Leck auszubessern. Wie auch, wenn sie in einer unterhaltsamen Groteske feststecken, in einer „besonderen Sonderklimafluchtkrisenkonferenz“, die einen Kontrast zu den realen Schicksalen bilden und zugleich die Absurdität europäischer Politik veranschaulichen soll. Letzteres gelingt durchaus: Da ist der Ölmagnat Nat (Daniel Stock); die christsoziale EU-Ratspräsidentin im AfD-blauen Anzug (Lydia Stäubli), die jedem Geflüchteten Hilfe verspricht, nur nicht sofort und nicht in Europa; die von ihrer Arbeit aufgeriebene Menschenrechtsanwältin (Sophie Bassert); der Wissenschaftler, der seine Erfindung der Welt schenkt; die Klima-Aktivistin, die zu immer extremeren Methoden aufruft; und der Performance-Künstler, der um jeden Preis schockieren will und dafür auch vor den Opfern der Flüchtlingswelle nicht stoppt. Als diese am Ende mit einem durchdringenden Knall von der Decke fallen, scheint ein aufrüttelndes Ende gefunden.
Stattdessen macht Lösch weiter, wieder mit endlosen Chorpassagen, in denen er zur Schwarzweißmalerei greift und auf Grautöne verzichtet. Auf einmal sind die einfachen Lösungen da, spielt die zuvor ausgebreitete Komplexität keine Rolle mehr. Lösch lässt Parolen schreien, die mit dem Weltklima oder gar mit Einzelschicksalen kaum noch zu tun haben und für Distanz sorgen statt für Nähe. Trotz einiger guter Argumente zünden diese Passagen nicht, setzen sich nicht im Hirn fest – und sind dadurch verschenkt, was bei dieser Thematik genau das falsche Ergebnis ist.
216 Millionen | 28.9., 4., 12., 19., 26., 31.10., 19.12., 8.1. je 19.30 Uhr | Schauspielhaus Bad Godesberg | 0228 77 80 08
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