Es sind Grenzen, die Menschen trennen, und es sind Künstler, die dieser unnatürlichen Willkürlichkeit entgegentreten. Einer der wichtigsten ist die Performancekünstlerin Marina Abramović, deren jahrzehntelange Arbeit momentan in der grandiosen Retrospektive „The Cleaner“ in der Bonner Bundeskunsthalle zu sehen ist. Vieles davon müsste man sicher eher riechen, fühlen, denn wie ist das, wenn da eine Frau im weißen Kleid auf einem blutigen Fleischberg sitzt und schrubbt und schrubbt und schrubbt? Ausgerechnet „Balkan Baroque" (1997) hat die Serbin diese Performance genannt, bei der sie über Tage und immer sechs Stunden (!) lang Knochen sauber putzte. Dafür bekam sie 1997 den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig, die Besucher in Bonn nur zweidimensionale Foto- und Filmaufnahmen.
Die Ausstellung zeigt alle performativen Schaffensphasen bis in die Gegenwart. Ausgesuchtes privates Archivmaterial zeigt zusätzlich die enorme Bandbreite im Wirken der Künstlerin, für die ihre Vergangenheit in Ex-Jugoslawien und die europäische Gegenwart Teile ein und desselben Kosmos sind, aus der sie ihre Inspiration bezieht, und noch darf man auf die nähere Zukunft gespannt sein. Eine Retrospektive ist ja keine unüberwindbare Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und diese Frau hat Grenzerfahrungen hinter sich, die in den 1970er Jahren fast jede Vorstellungskraft sprengten. Konzentrieren Sie sich beim Rundgang mal auf die Serie „Rhythm 0-10“ (1974), hier existieren Filmmitschnitte, Fotos, Performance-Devotionalien. Stellen Sie sich vor, Sie liegen draußen in einem brennenden Pentagramm aus 100 Litern Benzin und verlieren wegen Sauerstoffmangel das Bewusstsein (Rhythm 5, 1974, 8mm-Film auf Digitalvideo überspielt, sw, ohne Ton). Damals reagierte das Publikum erst, als die Kleidung der regungslosen Künstlerin Feuer fing und trugen sie aus dem brennenden Stern. Das war eine Grenzerfahrung auf beiden Seiten und bleibt sie selbst zweidimensional im Museum. Auch andere Dokumentationen mit ihrem damaligen Partner Ulay haben diese Qualität (als Beispiel: Rest Energy – Performance für ein Video, 1980).
Wer Marina Abramović noch nie live gesehen hat, sollte seinen Besuch anhand der zum Teil sporadisch live stattfinden Re-Performances planen. In der Galleria Communale d’Arte Moderna in Bologna standen sich bei „Imponderbilia“ (1977) die beiden 90 Minuten lang unbeweglich und nackt in einem schmalen Durchgang gegenüber, sodass die Besucher nur zwischen ihnen hindurch in das Museum gelangen konnten – das kann man in Bonn bei zwei jungen Performern fast täglich auch ausprobieren. Immer nur sonntags werden in der Ausstellung live Haare gebürstet und mit dem Satz „Art must be beautiful, artist must be beautiful“ (1975) zum audiovisuellen Erlebnis. Und wenn der Besucher Glück hat, dann wird auch „Luminosity“ von 1997 eine halbe Stunde lang performt. Extrem ausgeleuchtet und ausbalanciert sitzt dann eine Performerin nackt an der Wand auf einem Fahrradsattel. Wen das alles zutiefst berührt, der findet am Schluss vielleicht den wichtigen Gleichmut beim weiße Reiskörner zählen (Counting the rice, 2018) wieder. An einem irre langen Tisch sind Abertausende mit schwarzen Linsen vermischt. Aschenputtel im Smartphone-Zeitalter? Grandios. Das hält doch eh niemand lange durch.
The Cleaner | bis 12.8. | Bundeskunsthalle Bonn | 0228 917 12 00
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