Im Silvesterkonzert kündigte es sich an: Zu schweren barocken Klängen schleppte der Dirigent eine Eisenkugel, an das Fußgelenk gekettet, auf das Dirigierpodest. Im nächsten Tanzsatz sprengte er das leidige Ensemble vom Bein, sprang zurück auf die philharmonische Bühne, warf sich in Festrobe auf den Boden und vollführte einen Breakdance vom Feinsten. Da guckten nicht nur die Orchestermusiker, die vorher nicht eingeweiht waren, ziemlich überrascht und amüsiert, sondern besonders das bürgerliche Publikum.
Zur Erklärung: Das Programm hieß „Es lebe der Wahnsinn“, da darf Mann schon mal aus der Rolle fallen. Aber das Zeichen lautete: Es dräut im gewohnten Konzertbetrieb. Der konservative Konzertbesucher ist nicht mehr sicher. Der WDR greift aktiv an, er bestellt sich einen Fachmann. Dafür wurde jetzt für den WDR Rundfunkchor die neue Stelle eines Kreativdirektors kreiert. Der beginnt seinen Dienst zeitgleich mit dem neuen Chefdirigenten Nicolas Fink, dem Mann für das Übliche.
Der Heilsbringer mit der Lizenz zur Überraschung heißt Simon Halsey, und er will auch für sich persönlich etwas ändern: „Ich bin jetzt 61 Jahre alt, ich habe viel getan, und, ganz ehrlich, ich will neue Musikformate ausprobieren und nicht nur praktizieren, was ich bereits gemacht habe“, erzählt der Brite. „Ich habe weit über hundert Mal Beethovens Neunte einstudiert, da fehlt mir die Lust, das zu wiederholen.“
Aber auch da ist er großzügig und flexibel. Er fährt nämlich genau mit diesem Werk mit seinem alten Freund Sir Simon Rattle und dem aktuellen London Symphony Chorus in diesem Monat zur Elbphilharmonie und nach Baden Baden, danach noch nach Berlin, da ist er Ehrendirigent des Rundfunkchores nach 14 Jahren Chefdienst. Deshalb reist er mit Dudamel und den Berliner Philharmonikern im Sommer zur Olympiade nach Tokio, diesmal zwar wieder mit Beethovens Neunter, aber mit einem ganz speziellen Chor, den er dort zusammenstellen wird. Seine Spezialität sind nämlich Massenchöre, Mitsingkonzerte, Events zu ungewöhnlichen Zeiten an ungewöhnlichen Orten. Damit und mit seiner Jugendarbeit hat er sich in Berlin, New York, London und zuvor in Birmingham, wo Rattle reifte, den Ruf des Heilbringers für populär aufgeschlossene Chorarbeit verdient. Jetzt beschnuppert er die Domstadt und NRW mit der Frage: Was geht, Mr. Halsey?
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