Ökologie! Digitale Abstinenz! Entschleunigung! – seit Jahrhunderten ringen wir mit den „Segnungen“ der Zivilisation. „Das Unbehagen in der Kultur“, wie Freud das genannt hat, begleitet die Menschheitsgeschichte von Diogenes bis zu zeitgenössischen Öko-Dörfern. Der spiritus rector der modernen Zivilisationskritik war Henry David Thoreau, der sich 1845 für zwei Jahre in eine Blockhütte in der Natur zurückzog. Seinen Aufenthalt dokumentierte er in seinem Buchprojekt „Walden oder Leben in den Wäldern“, in dem er zugleich mit puritanischem Eifer über die Zivilisierung nachdachte – und dabei weniger öko war, als er behauptete. Das Krux-Kollektiv um Regisseurin Elsa Weiland beschäftigt sich in ihrer Produktion „Walden“ mit den Theorien des Aussteigers und zieht Parallelen zu den Protesten im Hambacher Forst.
Ein anderer Aussteiger ist Pierre Anthon. Held in Janne Tellers Roman „Nichts – Was im Leben wichtig ist“, den die tt-Theaterproduktion um die Schauspieler Lara Pietjou und Tomasso Tessitori, den bildenden Künstler Christian Keinstar und den technischen Leiter der Orangerie Jan Wiesbrock auf die Bühne bringt. Pierre Anthon verkündet plötzlich in seiner Klasse, dass nichts eine Bedeutung habe. Er zieht sich in einen Pflaumenbaum zurück und stellt bissig jeden Wertekonsens infrage. Seine Mitschüler beschließen, als Gegenargument einen Berg aus Bedeutung zu schaffen – was am Ende in eine Katastrophe führt.
Ein Einsteiger, der unfreiwillig zum Aussteiger wurde, ist dagegen der frühere FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Christian Strache. Bei einem heimlich gefilmten Treffen hatte er einer gefakten russischen Oligarchin das Blaue vom österreichischen Investoren-Himmel zu versprochen: Medien, Baukonzerne, Landschaft – alles käuflich. Damit war Straches Karriere und die Regierungsbeteiligung der FPÖ beendet, zugleich hatte Elfriede Jelinek Material für ein neues Stück: Ihr Text „Schwarzwasser“ wurde gerade in Wien uraufgeführt und kommt im April am Kölner Schauspiel in der Regie von Stefan Bachmann heraus. Jelinek macht, was sie am besten kann: Sie verquickt Ibizagate mit Euripides‘ „Bakchen“, Verweisen auf Polizeigewalt und NSU. Unterhaltung garantiert.
„Walden“ | R: Elsa Weiland | 22.4.(P) [VERSCHOBEN WEGEN CORONA] | Studiobühne | 0221 470 45 13
„Nichts – Was im Leben wichtig ist“ | R: tt-Theaterproduktion | 22.4.(P) | Orangerie-Theater | 0228 952 27 08
„Schwarzwasser“ | R: Stefan Bachmann | 4.4.(P) [VERSCHOBEN WEGEN CORONA] | Schauspiel Köln | 0221 221 28400
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