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Die Schweizer Dramatikerin Ariane Koch
Foto: Thilo Beu

„Variationen vom Verschwinden“

02. Oktober 2018

Autorin Ariane Koch über „Wer ist Walter“ am Theater Bonn – Premiere 10/18

Walter ist abgehauen. Einfach weg. Kappte sein gewohntes Leben und verschwand. Mit 200 Sachen aus dem Leben gerauscht. Wo ist er hin? Warum hat er nichts gesagt? Und wer ist Walter eigentlich überhaupt? Verzweiflung und Wut entstehen bei seinen Hinterbliebenen und irgendwie, auf einmal, wird Walters geheimnisvolles Verschwinden zum Heldenstatus stilisiert. Er traute sich. Raus aus der Zivilisation, ab in die Natur. Ist das mutig oder doch feige? Zivilisation vs. Natur. Walters Hinterbliebenen nutzen die Leerstelle als Projektion für die Suche nach ihrer eigenen Identität. Die Uraufführung von Ariane Kochs „Wer ist Walter“ inszeniert Simone Blattner („Abraumhalde“), das Bühnenbild ist von Andy Besuch, der 2018 als bester Kostümbilder gekürt wurde.

choices: Ariane, in deinem Stück ist Walter nur eine erzählte Identität. Er selbst taucht nie auf. Samuel Beckett sagte einst: „Hätte ich gewusst, [wer Godot ist], hätte ich das Stück nicht geschrieben.“ Weißt du, wer Walter ist?
Ariane Koch: Ich weiß vor allem immer weniger. Es ist doch interessant: Je mehr man Wissen anhäuft, umso weniger glaubt man zu wissen. Was mich interessiert, ist, wie man Identität erzählt, wie Erzählung Identitäten schafft. Im Stück sind es verschiedene Stimmen, die Walter erzählen und dabei immer auch aus ihrem eigenen Kontext und eigenen Bedürfnissen heraus auf ihn projizieren. Ich verstehe die Suche nach Walter als eine Suche nach Identität.

Würdest du sagen, dass durch die Mitarbeit von dir als Autorin, der Regie sowie der Dramaturgie ganz viele neue Identitäten von Walter entstehen? Identität aus Fragmenten sozusagen.
Das ist eine schöne Frage. Eine Meta-Ebene. Wie die Interpretation nochmal den Inhalt, die Identität verändert. Das Stück wurde hier zum Beispiel sehr musikalisch interpretiert und das formt natürlich auch die Figur von Walter sehr. Man kann schon den Vergleich zum Theaterschaffen ziehen. Es sind kleine Splitter, die zusammengesetzt werden und dann ein Ganzes ergeben. Theater ist immer ein Gemeinschaftswerk und für mich als Autorin ist das auch das Tolle. Dass ich weiß, dass noch weitere Ebenen vom eigenen Text oder Interpretationen davon hinzugefügt werden.

Ariane Koch
Foto: Thilo Beu
Zur Person
Ariane Koch (30) studierte Fine Arts an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel, Philosophie an der Universität Basel und Theaterwissenschaft an der Universität Bern. Sie ist Performance-Künstlerin, war Hausautorin am Luzerner Theater und schreibt gerade an ihrem ersten Roman. Sie war Stipendiatin des Förderprogramms „Dramenprozessor 13/14“ am Theater Winkelwiese in Zürich, in dessen Rahmen das Stück „Wer ist Walter“ entstanden ist.

Während des Schreibprozesses entwickeln sich sicherlich bestimmte Vorstellungen von Figuren aus dem Text. Kommt es dann manchmal zu Diskrepanzen, wenn mehrere Theaterschaffende am Stück beteiligt sind?
Total. Ich glaube, man braucht als Theatertexterin große Offenheit. Ich habe zum Beispiel eine Theatergruppe mit dem Regisseur Zino Wey und der Bühnenbildnerin Moïra Gilliéron und wir machen gemeinsam Projekte, wo ich viel stärker in die Probenarbeit eingebunden bin. Ich hatte noch nicht oft die Situation, dass ich später dazukomme und dann erst sehe, was damit passiert ist. Aber ich bin in erster Linie immer dankbar ganz neue Aspekte meines Textes zu sehen. Wie hier in Bonn.

Ist es wichtig, wer im Stück erzählt?
Ja. Das Stück zeigt für mich das Spektrum des Verschwindens. Variationen vom Verschwinden. Es gibt Textteile, wo es um die Frage geht: „Wer wird gehört und wer nicht?“ Also, der, der anwesend ist, wird zum Beispiel gehört. Der Verschwundene wird in diesem Fall nicht in dem Sinne gehört, sondern missinterpretiert. Es gibt einen Textteil, wo es darum geht, wie Leute z.B. in Diktaturen verschwinden, also wo Stimmen entzogen werden. In einem demokratischen Sinne ist es sehr wichtig, wer erzählen und damit Politik gestalten darf.

Walter verschwindet aus der gesellschaftlichen System-Maschinerie und niemand weiß, wo er ist. Die Flucht als bequeme Lösung. Ist das feige oder Rebellion?
Ein bisschen beides. Ich wollte auch den Gedanken verfolgen, inwiefern Verschwinden eine Form von Protest sein kann. Eine Form von Nicht-Teilnehmenwollen am System und damit auch die Verweigerung davon. Ich habe vor ein paar Jahren ein Stück gesehen, wo es eine Person gab, die nur im Bett blieb und sich immer nur überlegte, was sie tun könnte, aber schlussendlich doch nur im Bett blieb. Das hat mich unter anderem angeregt zu überlegen, welche Formen es von Protest geben könnte, die man nicht unbedingt bedacht hat.

Walters vertraute Personengruppe reagiert mit Ratlosigkeit und Irritation auf sein Verschwinden. Glaubst du, Menschen vergessen in unserer gehetzten Welt immer häufiger Empathie zu zeigen oder ist das bloß eine Konsequenz ungelebter Illusionen?
Ja, das ist spannend. Einerseits wird im Stück viel Empathie gezeigt, indem so etwas wie eine Natursekte für Walter gegründet wird. Andererseits wird er als Projektionsfläche missbraucht. Ich finde, das ist ein gutes Stichwort, die überhetzte Welt. Das beschäftigte mich auch. Also dieser Wunsch auszusteigen aus dem überarbeiteten Leben. Bartleby ist zum Beispiel so eine Figur, auch eine Protestfigur, die sich weigert weiterzuarbeiten und im Stück auftaucht. Letztens erschien ein Buch von David Graeber über „Bullshit-Jobs“, in dem es darum geht, dass eine extrem hohe Prozentzahl von Menschen sich in ihrer Arbeit nicht gebraucht fühlt, die sie macht. Nach Untersuchungen werden sie sogar tatsächlich nicht gebraucht. „Bullshit-Jobs“ sind sozusagen die zeitgenössische Form von Bartleby.

Walters Hinterbliebenen sind zwar verzweifelt über die Leerstelle, die er hinterlassen hat, reagieren aber auch mit Überheblichkeit. Jede Figur scheint Walter auf einmal besser zu kennen als die andere. Es wirken also konträre Gefühle. Können Menschen diese Ambivalenz überwinden oder muss das so?
Das ist eine schöne Beobachtung mit der Überheblichkeit. Diese Deutungshoheiten. Es ist immer ein Wettbewerb darum: Wer darf was, wie interpretieren. Also die Lösung, in allen meinen Texten... nein, nein. (lacht) Ich lande immer bei diesen religiösen Sachen. (lacht) Es gibt eine Verzweiflung, die alle teilen, aber es teilen nicht alle die gleiche Deutung davon. Die Verzweiflung ist dabei wie ein religiöses Bedürfnis, welches durch die Lücke namens Walter gestillt wird. Das fand ich auch beim Schreiben lustig, dass es sich ganz natürlich ergeben hat, dass das Abwesende total Potenzial hat für Religiöses. Weil es sofort idealisiert und angebetet werden und darin Halt gefunden werden kann, einfach dadurch es nicht da ist. Gleichzeitig sind die Figuren aber anwesend, weil sie darüber reden, weil sie es deuten. Es wird also über etwas Abwesendes gesprochen, aber in vollster Anwesenheit. Reden ist Anwesenheit.

Im Zeitalter von Klimakatastrophen sehnt sich der Mensch immer mehr nach einem Refugium in der Natur. Wie erklärst du dir das? Was suchen die Menschen dort?
Natur wird immer als das Andere dargestellt. Es ist immer Natur vs. Zivilisation. Natur als Sehnsuchtsort. Eine Projektionsfläche, wo man das Gefühl hat, da kann man sein, wie man wirklich ist. Mich hat auch interessiert, wie Natur erzählt wird. Zum Beispiel von Walt Disney. Das Naturbild wird da natürlich total romantisiert und ich habe das im Stück versucht zu dekonstruieren. Gleichzeitig habe ich aber eine Faszination für absurde Naturvorstellungen. Ich bin auf den Wissenschaftler Julien Offray de la Mettrie gestoßen, der im 18. Jahrhundert eine wahnsinnige Theorie aufgestellt hat. Eine Analogie zwischen Menschen und Pflanzen. Die ganze Pflanzenbiologie hat er auf die Biologie des Menschen anzuwenden versucht und miteinander verglichen, auch die Sexualorgane. Das wurde schon damals verboten, aber ich fand das eine lustige und spannende Theorie.

Du zitierst in deinem Stück Jean-Jaques Rousseau mit: „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.“ In Fachliteratur wird häufig von einer Generation Y gesprochen, (geborenen 1977-1999), der eine Chancenvielfalt zur Verfügung stehe, sie jedoch gleichzeitig ohnmächtig mache. Wie deutest du das?
Ich kenne die Debatte. Man muss aufpassen, dass man nicht meint, dass früher alles besser war oder dass man nicht das Gefühl hat, dass es gut war, dass man beispielsweise die Berufe der Eltern übernehmen konnte. Ich würde die vielen Möglichkeiten von heute als positive Entwicklung darstellen. Dass eine junge Generation auf der Suche ist, ist normal. Und dass viele Optionen da sind, ist erstmal ein Zeichen einer privilegierten Gesellschaft. Ich nehme in der Schweiz wahr, wie extrem wichtig die Arbeitsethik ist. Dass es das ist, worüber sich alle definieren und auch dazu angehalten sind, sich darüber zu definieren. Also Identität wird durch Arbeit hergestellt. Und das ist doch die Unfreiheit oder das Gefängnis von Optionen und auch eine Verengung des Blickwinkels auf den Menschen.

Viele ältere Theaterleute werfen den jungen Theatermachenden vor, die Welt zu kopieren, anstatt die Welt zu verdichten. Wie gehst du als junge Theaterschaffende mit solchen Vorwürfen um?
Die Welt zu kopieren? Ja, wenn es so einfach wäre die Welt zu kopieren. Ich weise den Vorwurf natürlich von mir. (lacht) Ich fühle mich nicht wie eine Person, die irgendetwas kopiert. Bei dem Wort „kopieren“ fällt mir gleich ein: zitieren oder paraphrasieren aus Material, was da ist. Das ist schon etwas, das mich interessiert, was man dem Stücktext auch anmerkt. Wenn ich an einem Thema dran bin, hat alles um mich herum plötzlich damit zu tun. Und ich mag es auch, dass es ganz verschiedene Referenzen sein können, die einfließen. Aus der Populärkultur, aus der Hochkultur, von irgendwo. Ich finde, das ist doch die totale Verdichtung.

Du bist erst 30 Jahre alt, bist Autorin, Performance-Künstlerin, warst Herausgeberin eines Magazins für Kunst und Kultur. Wie schaffst du das alles unter einen Hut zu kriegen?
Ich kenne es eigentlich gar nicht anders. Dass ich in verschiedenen Sparten unterwegs bin, begleitet mich seit Beginn meiner künstlerischen Tätigkeit. Ich brauche diese verschiedenen Sachen, die sich ergänzen, damit ich nicht irgendwo so lange bleiben muss, sondern immer wieder gehen kann.

Du schreibst ja gerade einen Roman, „Die Aufdrängung“, indem es um einen Gast geht, der nicht mehr gehen möchte. Worüber schreibt es sich eigentlich besser? Das Bleiben oder das Gehen?
Beides ist wundervoll! Ich kann, glaub ich, gar nichts anderes, als über diese Themen zu schreiben. Es ist lustig, weil es schlussendlich dasselbe ist, weil es sich gegenseitig bedingt. Walter ist gegangen, aber die, die da sind, sind die Gebliebenen. Der Roman ist aus dem Blickwinkel eines Gastgebers geschrieben, der ungebetene Gast kommt selbst aber nicht zu Wort. Das verbindet die beiden Texte. Dieses Projizieren auf den Fremden.

Muss man das Leben eigentlich ernst nehmen, wenn wir doch am Ende sowieso alle zu Staub zerfallen?
(lacht) Die Frage ist eigentlich viel zu schön, als dass man sie beantworten sollte.

„Wer ist Walter“ | R: Simone Blattner | 5.(P), 10., 16., 18., 25.10., 2., 9.11. je 20 Uhr | Theater Bonn, Werkstatt | 0221 77 80 08

Interview: Aleksandra Polnik

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