In den letzten Jahren hat das Theater Bonn eine Expertise für Inszenierungen von Stücken Neil LaButes entwickelt, denn immer wieder bekommt es aufgrund eines intensiven E-Mail-Kontaktes zwischen der dortigen Schauspielerin Birte Schrein und dem US-amerikanischen Hollywood-Regisseur und Autor das Recht zu Uraufführungen. In seinem neuesten Text schickt LaBute Birte Schrein und einen männlichen Kollegen nun also wie Hänsel und Gretel „Tief in einen dunklen Wald“: in eine kleine Hütte, die das Geschwisterpaar Bobby und Betty ausmisten möchte. Doch wie das so ist unter erwachsen gewordenen Geschwistern – es wird auch gleich die ganze Vergangenheit entrümpelt: Betty war und ist, so der Vorwurf des Bruders, ein Flittchen, das jetzt auch noch den Gatten betrügt. Er dagegen hält stramm die republikanisch-christlichen Werte hoch, verdammt den Ehebruch als Sünde und tätschelt sich selbst den weichen, übergewichtigen Bauch, wenn er seine moralische Stabilität lobt. Der korpulente Schauspieler Günter Alt gibt den Prekariats-Chauvi Bobby – Typ „weiche Schale harter Kern“. Einer, der sofort ambivalente Haltungen auslöst: Mal hat man Mitleid mit einem ungeliebten, vom Leben benachteiligten Tropf, mal ist man abgestoßen von den obszönen Aggressionen hinter der soften Fassade. Mit sadistischer Lust spielt dieser Bobby seine Macht über die Schwester aus, deren Gewissen, das spürt er, irgendeine Last drückt. Birte Schrein ist die gestresst-arrogante Uni-Dekanin Betty, die nicht nur Ehebruch, sondern auch gleich noch ein Verbrechen begangen hat. Es gären also – folgt man LaBute – Sex‘n‘Crime hinter der Fassade des langweiligen amerikanischen Mittelschichts-Milieus. Inzestuöse und nymphomanische Begierden und die böse Lust, andere Existenzen zu vernichten.
Vom Leben in Schein und Lüge kündet in der Bonner Inszenierung schon das Bühnenbild von Julia Ries. Nur ein Teil der Inneneinrichtung der Holzhütte ist gebaut, der Rest ist täuschend echte Fototapete, und man muss im Halbdunkel schon genau hingucken, um den Unterschied zwischen Realität und Trugbild zu unterscheiden – wie eben bei den Geschichten, die Bobby und Betty sich gegenseitig auftischen. Im Verlauf des Abends wird klar: So unterschiedlich wie sie zunächst wirken, sind die Geschwister gar nicht. Beide eint das Gefühl, erotisch unattraktiv zu sein – und eben das macht sie aggressiv, ja sogar gewalttätig.
Über solche psychologischen Analysen hinaus bietet LaButes Stück allerdings keine aufregenden Erkenntnisse. Sein Kammerspiel lebt vom Thrill der langsamen, sich immer wieder verzögernden Enthüllung und seinen temporeichen Halbsatz-Dialogen. Regisseur Michael Lippold hätte sich zwar die merkwürdige Regie-Idee verkneifen können, seinen live auf der E-Gitarre gewitternden Musiker Gregor Schwellenbach auch noch wie einen Geist auf der Bühne herumschleichen zu lassen. Doch im Übrigen schaffen er und seine beiden Darsteller es meist, die Komplexität der Charaktere herauszuarbeiten. So gelingt ein geschwisterlicher Ringkampf um die Wahrheit, bei dem es letztlich nur Verlierer geben kann.
„Tief in einem dunklen Wald“ von Neil LaBute | Regie: Julia Ries| Theater Bonn/Werkstatt | 6.7. | www.theater-bonn.de
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