Ein einsames Tanzmariechen macht noch keinen Karneval, geschweige denn eine Tanzperformance. Langsam marschiert sie auf die farbige, leicht mondrianische Bühne. Der Rest der Kompanie stampft noch durch schlichte Gänge der Viersener Festhalle, immer ein Lächeln auf den roten Lippen und die synchronen Bewegungsmuster des Marschtanzes in den Bewegungen. Sie erreichen im Trommelsound die Spielfläche mit Schrägen und Hindernissen und einer großen Videowand im Hintergrund, das Marschieren wird zur seriellen bewegten Installation im Raum. Seit längerer Zeit beschäftigt sich die israelische Choreografin Reut Shemesh mit traditionellem deutschen Gardetanz und den immanenten Geschlechterverhältnissen. „Cobra Blonde“ heißt die Performance, deren Livestream-Premiere beim diesjährigen biennalen Tanzfestival tanz nrw am Eröffnungsabend gezeigt wurde. Elf Tänzerinnen der Tanzgarde der Karnevalsfreunde der katholischen Jugend Düsseldorf tanzen jetzt die komplette Choreografie, die in den letzten zwei Jahren gemeinsam entstanden ist.
Gardetanz dekonstruiert
Irgendwann bekommt die Marschmusik dann einen Sprung in der Platte, der 4/4-Takt zerhackt, die Formation der Garde zerfließt. Die jungen Frauen mit ihren immer gleichen blonden Zöpfen in immer den gleichen Gardeuniformen, kurzen Röckchen und mit dem immer währenden stoischen Lächeln auf den roten Lippen vereinzeln sich wie die einstudierten Bewegungen, selbst das in-Reihen-Beine-werfen und der schnelle Spagat frieren ein oder werden zu Zeitlupenstudien: Hände gleiten nun langsam am Körper lang zur musikalischen Dauerschleife. Der Gardetanz ist dekonstruiert. Ausgerechnet hier ein eingespieltes Zitat: „The skirt is too short, the skirt is too long“. Wie immer liegt die Authentizität der Aussage im Geschlechterblick der jeweiligen Betrachter*innen.
Rückkehr zum Individuum
Auf der Bühne verknoten sich derweil Haare und Perücke, fünf Tänzerinnen werden zur skulpturalen Haarinstallation. Was diese fast theatralische Choreografie so faszinierend macht ist die völlige Loslösung vom eigentlichen Ursprung, nichts erinnert an Nikotin- und Biergeschwängerte Karnevals-Festzelte, wo sturzbetrunkene Jecken ihre Mariechen anfeuern. Bei Reut Shemesh werden sie wieder zu ihrem eigenen Selbst, jede „Puppe“ verlässt die Massenhülle und kehrt zum Individuum zurück und diese Vielfalt an Gesichtern, Outfits und unterschiedlichen Haarfarben wird durch eingespielte Portraitaufnahmen auf der Videowand verstärkt. Aber man hat nicht den Eindruck, dass diese Frauen ihrer Selbst beraubt wurden, sondern Teil einer freiwilligen Gemeinschaft sind, die nun aus dem Wunderland der Garden in die Realität zurückkehren wollen, natürlich nicht ohne einen letzten ironischen Blick auf das karnevalistische Liedgut der Nachkriegsära und die gefallenen blonden Perücken zu werfen. Eine Tänzerin scheint im Finale komplett von der Gruppe vereinzelt zu sein. Nichts Ernstes hoffe ich.
Cobra Blonde | Stream: Sa 8.5. 20 Uhr | tanz nrw
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Das überraschende Moment
Bühnenbildner miegL und seine Handschrift – Tanz in NRW 04/23
Tanz der toten Emotionen
„Service und Gefühl“, TanzFaktur
Gesellschaftlicher Seismograph
8. Internationales Bonner Tanzsolofestival – Tanz in NRW 03/23
Akustischer Raum für den Tanz
Jörg Ritzenhoff verändert die Tanzwahrnehmung – Tanz in NRW 02/23
Kann KI Kunst?
Experimente von Choreografin Julia Riera – Tanz in NRW 01/23
Wie geht es weiter?
Mechtild Tellmann schaut auf Zukunft des Tanzes – Tanz in NRW 12/22
Recht auf Ausdruck
Das Projekt UNIque@dance – Spezial 11/22
Der Zirkus verwandelt die Welt
„Zeit für Zirkus“ - Festival in NRW – Tanz in NRW 11/22
Reflexion oder Reaktion?
Urbäng! Festival mit Sonderausgabe zur Ukraine – Festival 10/22
Dem Tod auf der Spur
Neues von Angie Hiesl und Roland Kaiser – Tanz in NRW 09/22
Phänomen der Berührung
Freiraum Ensemble: „Sinneswüsten“ – Prolog 08/22
Versprechen auf die Zukunft
„tanz.tausch“ an diversen Orten in Köln – Tanz in NRW 08/22
Wiedergeburt 2.0
„Meta-Sleep“ am Schauspiel Köln
Harte Realitäten, radikale Utopien
1. ROAR-Festival in der Orangerie – Bühne 03/23
Die Reste unserer Existenz
„blut wie fluss“ am Theater Bonn – Prolog 03/23
Sehnsucht nach einer Welt, die einem antwortet
„Alles in Strömen“ am Freien Werkstatt Theater – Auftritt 03/23
Außenseiter der Gesellschaft
„Büchner“ am Theater der Keller – Prolog 03/23
Politische Wucht
„Cotton Club“ in Bonn – Theater am Rhein 03/23
„Die größte Gefahr liegt in der Vereinzelung“
Deborah Krönung über „Die unendliche Geschichte“ am Theater im Bauturm – Premiere 03/23
Doller kuscheln
„Gott des Gemetzels“ am Schauspiel – Theater am Rhein 03/23
Die Ehre, sterben zu dürfen
„Leutnant Gustl“ am Bauturm-Theater – Theater am Rhein 02/23
Lechzen nach Lebensfreude
„Hexenjagd“ am KKT – Prolog 02/23
Wohlstandspöbel
„Downgrade Prometheus“ von Trafique – Theater am Rhein 02/23
Angst
Beobachtung eines Kritikers im Kindertheater — Bühne 02/23
Irgendwie dazwischen
„Exil“ am Schauspiel Köln – Theater am Rhein 02/23