Patient Drei balanciert einen kleinen Tierkäfig mit Tennisbällen auf den Knien und erzählt den Zuschauern am Tisch aus seinem Leben. Einem Leben zwischen Drogen, Beschaffungskriminalität und schweren Schlägereien mit Polizisten. Nach einer langen Gefängnisodyssee ist er wegen seiner „drogenindizierten Psychose“ in der Sicherheitsverwahrung gelandet, wo er therapiert wird – ohne allerdings zu wissen, ob er jemals das Gefängnis wieder verlassen wird: „Sie kennen den Tag X nicht.“
Immer mehr Gefangene in Deutschland landen in Maßregelvollzug und Sicherungsverwahrung. Rund 10.000 sind es inzwischen, so haben Dramaturgin Inken Kautter und Regisseur Nico Dietrich für die Produktion „Wegschließen – und zwar für immer“ im Freien Werkstatt Theater recherchiert. Tendenz: steigend. Gefangene, die prophylaktisch in Haft bleiben, um das Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft zu stillen.
Kautter und Dietrich verarbeiten Material aus Interviews mit Gefangenen, Richtern, Politikern, Pflegepersonal, Anwälten, Ärzten oder Psychologen und nutzen für die Inszenierung die gesamte Topographie des Hauses. Schließerinnen geleiten die Zuschauer vom Foyer in den Keller und erläutern den Tagesablauf der Gefangenen; im unteren Theater gibt es eine Einführung in die deutsche Gesetzgebung, die Klagen dagegen vor dem Europäischen Menschengerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht. Tennisbälle, Kleintierkäfige und gelbes Klebeband dienen als Anschauungsmaterial; an einem Tisch im Kellerfoyer pocht ein Richter auf die nach EU-Recht notwendige „Rückkehrmöglichkeit“ für Gefangene in die Gesellschaft. Das Darstellerquartett (Katharina Waldau, Petra Kalkutschke, Oleg Zhukov und Rudolf Schlager) packt viel Wissens- und Erfahrungsstoff aus, der manchmal etwas nach Trockenfutter schmeckt. Die unterschiedlichen Schauplätze sollen weniger Orte wie Gefängnis oder Gericht illustrieren, der Akzent liegt auf dem Wechsel, der den Erzählsituationen die nötige Farbe verleiht, so dass es nie langweilig wird. Die Grundhaltung der Schauspieler bleibt die des frontalen Kommentars und Berichts. Um so mehr sticht dann Rudolf Schlager als Knacki zwischen Kartons und Zimmerpalme oder zuvor als wunderbar dubioser Anwalt in Shorts und mit Cocktail heraus, der die Klage beim EU-Menschengerichtshof in Straßburg mit Erfolg durchgefochten hat.
„Wegschließen“ ist zwar ein Dokumentarstück, das sich immer wieder mit Angaben wie „JVA Aachen“ oder „Forensische Klinik Köln-Porz“ selbst verortet.
Die Macher halten aber mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg, wenn sie den Grund für die steigenden Gefangenenzahlen im politisch und medial geschürten Sicherheitsbedürfnis einer globalisierten Gesellschaft verorten und die NIMBY-Haltung (Not In MyBack Yard) der Bürger im Zusammenhang mit dem Ausbau von Forensiken kritisieren.Ansonsten kommen deren Ansichten an diesem Abend leider viel zu kurz – nichtsdestotrotz ein sehenswerter Abend.
„Wegschließen – und zwar für immer“ von Inken Kautter und Nico Dietrich | R: Nico Dietrich | Freies Werkstatt Theater | 10.-13., 26.10. 20 Uhr | www.fwt-koeln.de
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