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Sven T. Siefken
Foto: APB Tutzing

„Problematisch, wenn sich Kritik auf Demokratie an sich richtet“

22. Dezember 2023

Teil 1: Interview – Politikwissenschaftler Sven T. Siefken über den Zustand der Demokratie

choices: Herr Siefken, bei vielen Wählern hat sich der Eindruck verfestigt, demokratisch verliehene Macht diene nicht dem Allgemeinwohl, sondern einzelnen Gruppen. Wie berechtigt ist dieser Eindruck?

Sven T. Siefken: Ich bin tatsächlich sehr skeptisch, ob dieser Eindruck wirklich eine Berechtigung hat. Wenn wir uns auf Deutschland konzentrieren: Wir treffen sehr viele grundlegende Entscheidungen, die sehr breit in die Gesellschaft hineinwirken – im positiven wie im negativen Sinne, dafür ist Politik ja auch da. Dass es nur noch um die Interessen von Einzelnen geht, die sowieso schon viel Macht oder Geld haben, das trifft für Deutschland zumindest nicht zu.

Angesichts des Politikverdrusses wird schon die „Krise der Demokratie“ beschworen …

Was man immer unterscheiden muss, wenn man von der Krise der Demokratie spricht, ist, welche Ebene man gerade betrachtet. Dass es Kritik an den Regierenden oder an einzelnen Parteien gibt, ist nicht nur legitim, sondern normal und auch wünschenswert. Problematisch wird es, wenn sich diese Kritik auf die Demokratie an sich richtet: die Demokratie, wie wir sie in Deutschland haben, oder allgemeiner auf die Demokratie als Ordnungsprinzip für staatliches Zusammenleben. Wenn es breite Unzufriedenheit mit „der“ Demokratie gibt und alternative Formen des Staates eine größere Unterstützung haben, dann ist es Zeit, die Alarmglocken zu läuten. In dieser Hinsicht haben wir in Deutschland keinen Grund zur Panik: Die grundsätzliche Zustimmung zur Demokratie ist vorhanden und stark – aber, in Teilen zumindest, auch rückläufig. Dennoch würde ich nicht die große Legitimationskrise ausrufen.

„Bei Kompromissen kommt oft nicht der große Wurf heraus“

Es gibt durchaus einen Reform- oder Umsetzungsstau. Woran liegt das?

Es ist natürlich die Herausforderung in demokratischen Systemen, dass letztlich jede Entscheidung abhängig ist von der Zustimmung derjenigen, die es hinterher betrifft. Wir haben es bei der Energiewende gesehen: Da sind wir in der breiten Öffentlichkeit und unter den politischen Akteuren, bis hin zum Bundesverfassungsgericht der Meinung, dass mehr getan werden muss, darauf können sich eigentlich alle einigen. Aber in dem Moment, in dem es als Belastung beim Einzelnen ankommt, wo sich unsere Lebensweise dementsprechend verändern muss, wo wir selbst höhere Kosten für bestimmte Dinge tragen müssen, da mögen wir es nicht mehr so sehr. Dieses Spannungsfeld nimmt die Politik mit in einer Demokratie, denn Politik braucht Zustimmung und Unterstützung. Das ist die Herausforderung, weil wir zusätzlich in der politischen Kultur Deutschlands eine ziemlich starke Orientierung hin zu Kompromiss und Konsens haben. Das ist in anderen Ländern ganz anders, in den USA oder Großbritannien gibt es eine viel stärkere Konfliktorientierung: Da akzeptiert man es auch, wenn jemand anderes die Wahl gewinnt, dann das Steuer herumreißt und eine ganz andere Politik macht, etwa eine allgemeine Gesundheitsversicherung einführt, während der nächste Präsident dieses Programm dann wieder beendet. Dieses Hin und Her haben wir in Deutschland nicht, und das liegt einerseits an der politischen Kultur und andererseits auch an den politischen Institutionen, daran wie das System aufgebaut ist. Es ist ebenfalls darauf ausgerichtet, Kompromisse zu schaffen. Das Problem von Kompromissen ist nur, es kommt dabei oftmals nicht der große Wurf heraus, sondern kleine Anpassungen, „piecemeal engineering“. Kompromissfindung ist überdies ein langwieriger und schwieriger Prozess. Umgekehrt hat diese Art des Regierens aber auch eine Stärke, weil man in diese Entscheidung alle möglichen Bedenken, Vorbehalte und Fachwissen besser integrieren kann. Ein guter Kompromiss kann leichter realisiert werden und bei der Umsetzung weniger Probleme verursachen. Aber dafür gibt es keine Garantie, und es ist eben die Voraussetzung für große Reformvorhaben, entsprechende Mehrheiten und Verständnis zu sammeln.

„Abgeordnete verbringen ungefähr 40 Prozent ihrer Zeit in den Wahlkreisen. Dort sind sie ansprechbar“

Vertraut ist uns auch der Ruf nach mehr direkter Demokratie, etwa durch Bürgerräte oder Volksbefragungen. Gilt der besagte Verdruss also ausdrücklich der repräsentativen Demokratie?

Das glaube ich nicht, wir haben vielmehr eine Krise in der Wahrnehmung dieser politischen Prozesse. Diese Perspektive, die oft eingenommen wird – „die entfernte Politik, die ganz weit weg ist und in einer abgehobenen ‚Berliner Blase‘ ihre Sachen macht, während wir Bürger hier zu Hause vor Ort sind“ – entspricht der Realität nicht. Wenn wir uns die Bundestagsabgeordneten mal anschauen. Wir haben vor Jahren bei einem großen Forschungsprojekt 67 Abgeordnete in ganz Deutschland bei ihrer Wahlkreisarbeit vor Ort begleitet und beobachtet: Was sie tun, mit wem sie sprechen, worüber sie sprechen. Da sehen wir eine große Offenheit und Aktivität der Abgeordneten in den Wahlkreisen, vor Ort bei den Menschen, bei Vereinen, Unternehmen, in den Parteien. Sie verbringen ungefähr 40 Prozent ihrer Zeit in den Wahlkreisen in der ganzen Republik. Und dort sind sie auch jederzeit ansprechbar, nehmen Informationen auf, vermitteln diese in den politischen Prozess. Es liegt also auch an den Bürgerinnen und Bürgern selbst, sich mit ihren Positionen einzubringen und von ihren gewählten Volksvertretern Erklärungen einzufordern. Die Mechanismen der direkten Demokratie sind aus meiner Sicht überhaupt keine Alternative dafür. Es gibt ja Länder wie die Schweiz oder einige Bundesstaaten in den USA, die schon lange Erfahrung mit solchen Initiativen haben. Auf der Landesebene haben wir das mittlerweile auch in Deutschland, aber daher wissen wir: Diese Verfahren sind extrem kampagnenanfällig. Sie führen eben nicht zu einer Egalisierung, sondern eher zu einer zusätzlichen Bedeutung von starken und gut organisierten Interessen. Insofern liegt in der direkten Demokratie eine Gefahr für das demokratische Regieren und sie wird auch von keiner Partei mehr gefordert, außer von der AfD – selbst die Grünen, die lange Verfechter solcher Verfahren waren, fordern sie mittlerweile nicht mehr. Sie erwähnten auch Bürgerräte, das ist aber etwas anderes: Bürgerräte sind konsultative, beratende Verfahren, die die repräsentative Demokratie ergänzen können. Das ist ein Verfahren, mit dem jetzt auch auf der Ebene des Bundes experimentiert wird, jetzt ist gerade wieder ein Bürgerrat bei der Arbeit zum Thema Ernährung. Es gibt auch ganz interessante Ansätze in denen ähnliche geloste Gremien in einzelnen Wahlkreisen veranstaltet werden, etwa durch das Projekt „Hallo Bundestag“. da wird viel experimentiert. Die halte ich für eine interessante Ergänzung repräsentativer Demokratie, weil sie Kommunikationsanlässe bieten. Aber wichtig dabei ist, dass sie die repräsentative Demokratie eben nicht ersetzen, sondern ergänzen und sinnvoll mit ihr verschränkt werden müssen. Und darüber wie sie eigentlich wirken, wissen wir, noch gar nicht so viel, auch nicht aus der internationalen Forschung.

„Es liegt auch an Bürgerinnen und Bürgern selbst, sich mit ihren Positionen einzubringen“

Vom Drei-, über das Vier-, zum Sechsparteiensystem: Das deutsche Parlament ist fundamentalen Veränderungen unterworfen. Sind Volksparteien endgültig Geschichte?

Wovon wir uns tatsächlich verabschieden können, ist die Situation, wie wir sie in den 1960er und 70er Jahren bis in die 1980er hinein hatten: dass es wirklich zwei große Volksparteien gab, die eine starke Integrationskraft in ganz breite Kreise der Bevölkerung hatten. Und das liegt letztlich auch in der Gesellschaft begründet, die sich verändert hat, die Prägekraft von sozialen Milieus hat abgenommen. Britische Wahlforscher haben das vor ein paar Jahren schonmal in die Diagnose gefasst: „voters begin to choose“, „Wähler werden wählerisch“: Sie lassen sich nicht mehr festlegen auf das, was sie schon immer gewählt haben, sondern sie sehen sich genau an, wofür die jeweilige Partei steht und sind auch selbst aufgrund der gestiegenen sozialen Mobilität unabhängig von ihren sozialen Herkunftsmilieus. Wir haben also viele kleinere Parteien, die unterschiedliche Gruppen bedienen. Insofern denke ich schon, dass die Zeit der großen Volksparteien vorbei ist, aber wir haben noch keine massive Parteienzersplitterung, wenn wir es mal mit anderen Ländern oder auch der deutschen Geschichte vergleichen. Es ist aber nicht nur die Zahl der Parteien entscheidend, sondern auch die Zahl ihrer Mitglieder: Die Zahl der Parteien nimmt zu, aber die Gesamtzahl der Parteimitglieder sinkt seit den 1970er Jahren massiv. Doch die Parteien haben eine wichtige Funktion zwischen Gesellschaft und Politik, denn sie vermitteln Interessen, Wünschen und Forderungen in den politischen Bereich hinein und auch wieder hinaus. Wenn sich die Mitgliederzahlen der Parteien halbieren, gibt es auch nur halb so viele Leute, die diese Vermittlungsarbeit übernehmen können. Das ist eine Herausforderung für das politische System. Daher muss man alternative Wege finden und Institutionen schaffen, die Politik vermitteln, aber auch die Stärken und Vorteile des Engagements in Parteien deutlich machen, die es ohne Frage gibt. Deshalb sind Parteien ja auch prominent im Grundgesetz erwähnt, Parteien gehören zu einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie dazu. In der Gesellschaft und im Parlament brauchen wir Parteien, sonst würde es nicht funktionieren. Das ist die Herausforderung für die Parteien, sich in diesem veränderten Umfeld zu behaupten, sich anzupassen und neu aufzustellen. Das versuchen sie auch, es gelingt nur noch nicht so richtig.

„Direkte Demokratie ist keine Alternative“

Die Aufsplitterung des Parteienspektrums sollte nach den Erfahrungen der Weimarer Republik explizit verhindert werden. Ist das System parlamentarischer Mehrheiten für diese Zahl von Mitspielern noch ausgelegt?

Zentral ist nach wie vor, dass wir eine Mehrheit brauchen. Und nicht nur ad-hoc für einzelne Gesetzesvorhaben, sondern um überhaupt eine Regierung ins Amt zu bringen. Das führt zu Koalitionsbildungen – nach einer Wahl des Bundestages und eines Bundeskanzlers. Diese Koalitionsverhandlungen haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert, wir haben mittlerweile einen hochgradig ausdifferenzierten Prozess. An den letzten Verhandlungen waren gut 200 Personen beteiligt, in unterschiedlichen Gremien und Arbeitsgruppen, und die Ergebnisse wurden in einem Vertrag mit über 170 Seiten festgehalten, auf denen detaillierte Vorhaben aufgelistet sind, die somit ein Arbeitsprogramm für die Regierung darstellen. Dieser Koalitionsvertrag wurde vor der Unterzeichnung öffentlich gemacht und den beteiligten Parteien zur Zustimmung vorgelegt. Wir sahen 2021 ein differenziertes Verfahren zwischen von der Öffentlichkeit abgeschiedenen Verhandlungen und der Bekanntmachtung abgestimmter Zwischenergebnisse. Dies führt dazu dazu, dass eine stabile Regierung gebildet wird, die sich bereits darauf geeinigt hat, wie sie zusammenarbeiten will und welche Themen sie angehen möchte. Natürlich sind solche Verhandlungen komplizierter, je mehr Parteien mit unterschiedlichen Perspektiven sich daran beteiligen, aber sie haben eben die Stärke, dass es schon vor der Wahl des Kanzlers in vielen Bereichen Einigungen gibt und man gemeinsam in die Umsetzung gehen kann. Das lässt sich auch mit noch mehr Parteien machen – das wird schwieriger, aber es ist nicht unbedingt ein Verlust an Demokratie.

Würde das System auch weniger starre Konstellationen als „Koalition vs. Opposition“ erlauben?

Einige halten das ja für wünschenswert, aber ich halte es für völlig falsch. Die Alternative, die es in anderen Ländern gibt, ist zu sagen: Wir brauchen diese Mehrheit gar nicht, wir können mit einer Minderheitsregierung arbeiten, und dann gucken wir von Thema zu Thema, wie finden wir Mehrheiten. Aber das führt zu einer viel geringeren Handlungsfähigkeit des politischen Systems, weil es eben diese Stabilität von Regierung und ihren Vorhaben nicht gibt. Es bringt weniger Entscheidungen hervor – weniger gute Entscheidungen, weniger Vertrauen und auch größere Abhängigkeit von individuellen Einflüssen. Wenn wir auf diese aktuelle Regierungskoalition gucken, haben wir oft den Eindruck, „die bekommen nichts hin“. Denn wir sehen natürlich – gerade in den Medien – große Konfliktpunkte, die in einem anderen Stil offen ausgetragen werden, als wir das von den Großen Koalitionen unter Führung von Angela Merkel gewohnt waren. Konflikte innerhalb der Koalition werden gegenwärtig teilweise sehr öffentlich ausgetragen, das sind wir gar nicht mehr gewöhnt. Natürlich haben wir jetzt eine Koalition, die auch ideologisch eine größere Distanz überbrückt. Wenn wir uns aber das Gesamthandeln der Regierung anschauen, finden wir, dass von den Vorhaben im Koalitionsvertrag ganz viele bereits in Angriff genommen werden, dass tatsächlich gehandelt und umgesetzt wird. Wenn man auf die vorherigen Wahlperioden schaut, stellt man fest, dass jeweils 80 Prozent der im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben auch realisiert wurden. Die Ampelkoalition ist ebenfalls auf genau diesem Weg, bereits zur Halbzeit sind laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von den 453 vereinbaren Maßnahmen knapp 40 Prozent erfüllt und bei weiteren 26 Prozent wurde mit der Umsetzung begonnen. Aber wir haben gleichzeitig eine Sichtbarkeit von Konflikten, die zu einem ganz anderen Eindruck an vielen Stellen führt. Doch auch bei diesen Konflikten haben wir keine Blockade, sondern es sind am Schluss Entscheidungen getroffen worden, von daher würde ich das gar nicht als Problem sehen. Problematisch wird es aber dann, wenn diese Einschätzung die Bevölkerungswahrnehmung so prägt, dass man sagt, „die bekommen überhaupt nichts mehr hin“. Diesen Effekt sehen wir tatsächlich zurzeit, insofern sind diese kommunikativen Aspekte dem Vertrauen in die Regierung nicht förderlich, das wird von den Akteuren in der Regierung auch eingestanden. Hoffentlich entfaltet das nicht weitere Effekte auf das Vertrauen in die Demokratie.

„Was im Interesse des Volkes liegt, kann auch mal nicht das sein, was jeder will“

Könnte eine Systemreform Vertrauen fördern?

Man muss in der Demokratie ständig Veränderungen an den Prozessen durchführen, Demokratie ist niemals fertig, weil sie sich in einem dynamischen System bewegt – nämlich der Gesellschaft, die sich ebenfalls verändert, und einer globalen Welt voller Konflikte. Dinge anzustoßen, kritisch zu hinterfragen, ist auch Aufgabe der Politik selbst. Ich würde das aber nicht als den einen großen Wurf sehen im Sinne von: Wir finden etwas ganz anderes. Die Parlamentarische Demokratie verbindet schon sehr gut die ganz verschiedenen Anforderungen miteinander, die wir haben. Denn wir wollen einerseits, dass politische Entscheidungen auf dem Willen der Bürgerinnen und Bürger beruhen, ihn widerspiegeln und entsprechen. Auf der anderen Seite wollen wir aber auch keine Entscheidungen, die einfach nur eine Momentaufnahme der jeweils aktuellen Bevölkerungspräferenz sind, sondern fordern, dass sich diejenigen, die zu einem bestimmten Thema ein Entscheidung treffen, sehr tiefgehend darüber informieren, dass sie sich mit dieser Entscheidung auseinandersetzen, dass sie Betroffene, Vertreterinnen der Wissenschaft, Experten aus der Praxis, international und national konsultieren und Informationen einholen, diese zusammenführen und sich dann eine eigene Meinung bilden um so zu entscheiden, wie es im Interesse des Volkes ist. Denn das ist der Auftrag der repräsentativen Demokratie: Im Interesse des Volkes zu handeln – und das, was im Interesse liegt, kann in bestimmten Momenten auch mal nicht das sein, was jeder gerade will. Es ist also die Aufgabe der Politik, die schweren Entscheidungen zu treffen, aber dazu gehört auch der Auftrag, diejenigen, die das nicht als in ihrem Interesse wahrnehmen, zu überzeugen, dass dies die beste Entscheidung ist. Es ist also wieder die Kommunikation, die an Anfang, Mitte und Schluss des Prozesses steht. Aber dazwischen gibt es eine Phase, in der es um intensive fachliche Arbeit geht und darum sind Abgeordnete Fachpolitiker. Wenn wir ins Parlament schauen, ist jeder Abgeordnete in einem oder zwei Fachausschüssen tätig und sehr eng auf bestimmte Themen festgelegt. Im Wahlkreis decken sie die ganze Bandbreite politischer Themen ab, aber die inhaltliche Arbeit findet in Berlin statt und ist durch die Arbeitsteilung in den Fachausschüssen des Parlaments geprägt. Es ist die gleiche Person, die in die Bevölkerung wirkt, dort Informationen aufnimmt und Ergebnisse vermittelt und sich andererseits in der Parlamentsarbeit auf sehr enge Themen konzentrieren kann und Zugang zu Experten und Expertinnen hat. Vor einigen Monaten erschien eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, die sich mit dem Vertrauen in die Demokratie beschäftigt: Man hatte nach der besten Staatsform gefragt und um die 30 Prozent sprechen sich für eine Herrschaft von Experten aus. Dieser Fokus ist nicht neu, führt aber in die Irre: Politik ist gerade dazu da, dann Entscheidungen zu treffen, wenn nicht klar ist, was richtig ist. Das hat man in der Corona-Krise gesehen: Man wusste in ganz vielen Bereichen nicht, wie überträgt sich dieses Virus, was können wir tun? Trotzdem musste man entscheiden und handeln. Dafür ist die Politik da, zu handeln und nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen zu treffen und dafür auch verantwortlich gemacht werden zu können, bei den nächsten Wahlen beispielsweise. Das muss man sich immer wieder bewusst machen, denn das ist bei einer Expertenherrschaft etwas anderes. Ich brauche Experten, wenn allgemein klar ist, was richtig ist. Aber bestimmte Dinge sind wertgebundene Fragen: Wie ist das mit dem allgemeinen Tempolimit? Wie es das mit den Regeln bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen? Da gibt es kein absolutes richtig oder falsch, und genau dafür ist Politik da. Politik trifft Entscheidungen unter Unsicherheit, weil das Wissen entweder noch nicht da ist, oder gar nicht da sein kann, weil es nicht um richtig oder falsch geht, sondern um Wertfragen.

„Nicht nur jammern und meckern“

Wie lassen sich Bürgernähe und Handlungsfähigkeit ausbalancieren?

Genau das ist die zentrale Herausforderung, die es auch immer schon gab. Die Antwort kann nur sein, indem man es immer wieder versucht. Indem man sich auf gewandeltes Verhalten und gewandelte Interessen einstellt, indem man mit neuen Kanälen experimentiert. Das tun Politikerinnen und Politiker auch. Wir haben eben über das Beispiel der Bürgerräte gesprochen, wir sehen Politikerinnen, die nicht nur in den klassischen sozialen Medien wie Facebook sondern auch bei Tiktok, Twitter oder Instagram Wege zu einer neuen Ansprache suchen, einer direkten Ansprache, um sich nicht darauf zu verlassen, dass die Leute zu ihnen kommen. Hier müssen die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen Wege finden, in Kontakt zu treten. Das ist aber nicht nur eine Anforderung an die Politik, umgekehrt ist es Aufgabe aller Menschen, sich selbst einzubringen – sich mit ihrer Zufriedenheit, ihrer Unzufriedenheit, mit ihren Wünschen darauf einzulassen, nicht nur zu jammern und zu meckern, sondern zu sagen: Ich habe hier etwas, mit dem ich unzufrieden bin, jetzt möchte ich mich an denjenigen wenden, der dafür ein Ansprechpartner ist, oder ich möchte selbst etwas bewegen. Von der Hand mit dem ausgestreckten Finger – um mal ein Zitat des Bundespräsidenten Heinemann zu bemühen – der auf die Politiker zeigt, deuten drei Finger immer auf einen selbst zurück. Hierfür Wege zu finden, anzubieten und zu nutzen, ist die Herausforderung für die Politik, die Regierung und den Einzelnen.


NACH DER DEMOKRATIE - Aktiv im Thema

idea.int/democracytracker | Der Democracy Tracker der zwischenstaatlichen Organisation International Idea dokumentiert monatlich anhand von konkreten Ereignissen, wie es um Demokratie und Menschenrechte in über 170 Ländern bestellt ist.
goethe.de/prj/zei/de/art/24538018.html | Der Beitrag des Goethe-Instituts diskutiert, wie verbreitet demokratisches Regieren weltweit ist.
deutschlandfunk.de/wahlrechtsreform-wie-der-bundestag-verkleinert-werden-soll-100.html | DLF-Überblick zur Verkleinerung des Bundestags.

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Interview: Christopher Dröge

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