choices: Herr Reck, kann man Kreativität überhaupt definieren?
Hans Ulrich Reck: Das Wort „kreativ“ nähert sich zunächst einmal dem Begriff des „Schöpferischen“. Das war früher begrifflich mit einer spezifischen Anstrengung, mit einer Überschreitung verbunden. Schöpferische Individuen galten als grenzwertig, als Ausnahme. Daraus hat sich in der Romantik der Genie-Begriff entwickelt. Das „Kreative“ ist neueren Ursprungs, im Brockhaus von 1894 kommt „Kreativität“ beispielsweise noch nicht vor.
Wann tauchte der Begriff denn auf?
Der Begriff kam im Laufe des 20. Jahrhunderts als ein Zweig der Psychologie, der Kreativitätsforschung in den USA, auf die Welt – übrigens in engem Zusammenhang mit dem Militär. Nicht nur dort wurden regelmäßig Daten zum Bildungsstand von Rekruten erhoben. In den USA hat man festgestellt, dass die Schwarzen bei Intelligenztests deutlich schlechter abschnitten. Das ist nicht verwunderlich, weil Intelligenz nicht in absoluten Werten gemessen wird, sondern in Korrelation zum sozialen Hintergrund und dem Stand der Bildung – was auch etwas mit Reichtum und Armut zu tun hat. In den Fünfziger Jahren suchte man dann nach anderen Qualitäten, die der schwarzen Bevölkerung bessere Testresultate ermöglichen und so gewissermaßen die Existenz der Chancengleichheit beweisen sollten.
Kreativität statt Intelligenz?
Richtig ist, dass die Sprach- und Ausdrucksfähigkeit durch Bildung modelliert wird, dass dies aber nicht ausreicht, um „Intelligenz“ hinreichend zu erklären. Also griff man auf andere Bereiche zurück, auf kulturelle Qualitäten wie Originalität, Fantasie, Reichtum der persönlichen Kultur, eben alles, was nicht vom Schulsystem vermittelt wird und was „Kreativität“ begründen könnte. Die damaligen gut dokumentierten Pionierarbeiten setzten alles daran, solche Merkmale zu finden, um sie später in die Tests einfließen zu lassen. Aus heutiger Sicht sind diese Merkmale wissenschaftlich nicht wirklich objektiviert worden. Das Projekt ist also gescheitert.
Das Scheitern hat der Popularität des Begriffs Kreativität nicht geschadet.
Das wiederum hängt ohne Zweifel mit der Entwicklung der Bildenden Künste und ihrem Eindringen in den gesellschaftlichen Alltag zusammen. Die Künste entwickelten sich seit der Renaissance als der Bereich, von dem man etwas Originelles, etwas Neues, aber immer auch moralisch Schönes, Erhabenes erwartete. Im frühen 20. Jahrhundert begannen Künstler, sich zunehmend dieser Rolle zu verweigern. Deshalb kam vermehrt die Frage auf „Was ist daran kreativ?“ Man könnte sagen, die Behauptung, dass Kreativität auch außerhalb der Kunst möglich ist, ist die Rache der Enttäuschten dafür, dass die Künste nicht mehr das Erhabene, sondern das Hässliche, das Unverständliche ablieferten.
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