Die Debatte um Günther Grass und sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ dominiert aktuell Feuilletons und Gazetten. Liedermacher Wolf Biermann nennt es gar eine „literarische Todsünde“. Ganz anders polemisieren da Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz: Die vier Herren – allesamt über Jahrzehnte in Kulturverwaltung und Kulturpolitik beschäftigt – haben nicht den Staat Israel, sondern die angebliche Übersubvention der Kultur ins Visier genommen: „Der Kulturinfarkt – Von allem zu viel und überall das Gleiche“ nennen sie ihr provokantes Werk über Kulturpolitik, Kulturstaat und Kultursubvention. 84 Opernhäuser in 81 deutschen Städten beispielsweise halten sie für absurde Verschwendung und liebäugeln mit dem freien Spiel der Marktkräfte: Nur was vom Publikum massenhaft und milieuübergreifend angenommen werde, habe das Recht auf Förderung, und übermäßige Kultursubventionen verführten die Künstler dazu, am Publikum vorbeizuproduzieren. So könnte man „revanchepolemisch“ die problematische Seite ihres Credos zusammenfassen.
Andere Aspekte sind hingegen wichtig und richtig: Die großen Kulturinstitutionen seien unflexibel und undurchlässig, bedienten sich schamlos bei ästhetischen Neuerungen der wesentlich schlechter geförderten Freien Szene und blockierten jede selbstkritische Betrachtung aus der Sorge heraus, ihre Pfründe könnten flöten gehen. Gerade die schlecht finanzierte Freie Szene sei es aber, die für ein attraktives, kreatives Klima in den Großstädten ausschlaggebend sei, und so gelte es, Förderprogramme stärker auf die Freie Kunstproduktion zuzuschneiden und flexiblere, gegebenenfalls temporäre Strukturen zu schaffen: „Wir sind darauf fixiert, die Kultur von gestern, die etablierten Institutionen zu fördern. Uns geht die Luft aus, um dem, was da neu nachwächst, dem, was in den Szenen passiert, den entsprechenden Raum zu geben“, so Dieter Haselbach in einem WDR 3-Interview.
Es ist in der Tat schwer zu verstehen, warum eine Opernsängerin für eine – zugegebenermaßen herausragende – Opernpartie mit 30.000 Euro Gage am Abend, finanziert aus öffentlichen Mitteln, so viel verdient, wie für eine gesamte Freie Theaterproduktion mit 15 Beteiligten über zwei Monate zur Verfügung steht. Ähnlich problematisch nehmen sich die nichtkünstlerischen Kosten großer Kulturbetriebe aus. Kultursubventionen sollten daher stärker in Innovation und Kunstproduktion und nicht primär in große, behäbige Kulturapparate fließen. Die Forderung nach einer stärkeren Umverteilung innerhalb des kulturellen Systems zu Gunsten von flexiblen Strukturen und Freien Produktionen ist das Diskussionswürdige am „Kulturinfarkt“. Beifall von der falschen Seite ist da – Grass lässt grüßen – vorprogrammiert. Auch die Grundannahme der „Infarkter“, es gebe in Zukunft immer weniger Geld für Kultur in den öffentlichen Etats, erscheint als fragwürdig: „Die Verkleinerung der Infrastrukturen wird unvermeidlich sein ... Wenn keine wachsenden Mittel zur Kulturförderung zur Verfügung stehen, dann ist es doch sinnvoller, aktiv zu verändern, als sich zu verschleißen, Abwehrkämpfe zu führen und zu jeder möglichen Kürzung im Kulturhaushalt zu sagen, das und das ist unverzichtbar und da darf auf keinen Fall drangegangen werden“, so Haselbach. Letztlich ist es eine Entscheidung der Gesellschaft, wie viel Geld sie für Kunst und Kultur, d.h. für ihre Zukunftsfähigkeit, die Pflege ihrer Identität, die kulturelle Bildung und die kulturelle Integration ausgeben will. Strukturen, die einmal zerschlagen werden, sind unwiederbringlich verloren. Und so bietet der gut gemeinte „Kulturinfarkt“ vielen Kunstverächtern eine Steilvorlage, um Kürzungsvorschläge zu untermauern.
Doch Spitz pass auf: Wenn in ganz NRW künftig nur ganze vier Freie Theaterensembles eine Spitzenförderung erhalten, wenn das ehemalige Kulturradio WDR3 seit Jahren in Programminhalten, Qualität und Quantität der Kulturberichterstattung verstümmelt wird, wenn Hörspielredaktionen geschlossen und Orchester fusioniert werden, wenn nur noch 10% des Stadttheateretats für die reine künstlerische Produktion zur Verfügung stehen, wenn freie Theaterschaffende im Monat durchschnittlich 850 Euro verdienen, so ist dies keine Überversorgung! Auch sind viele anspruchsvolle Theaterabende gut besucht, und so ist die Behauptung, es werde am Zuschauer „vorbeiproduziert“, schlichtweg falsch. Und: Was wären Städte wie Wuppertal, Oberhausen, Jena, Magdeburg oder Gelsenkirchen noch „wert“, wenn man ihre städtischen Theater im Zentrum – wie von den emsigen Autoren gefordert –zusammen mit achtzig, neunzig Museen schließen würde, um die Kulturausgaben zu halbieren? Muss man das halbe Herz amputieren, nur weil einige Herzkranzgefäße verkalkt sind?
Fazit: Der wichtige Grundgedanke zu einer selbstkritischen Betrachtung des kulturellen Systems läuft bei Haselbach und seinen Kollegen Gefahr, hinter Polemik, der eigenen Profilierung und dem Diktat des Unterhaltungsbedürfnisses der Masse zu verschwinden. Schade, denn es gilt aktuell, die Zukunftsfähigkeit der Kulturinstitutionen und Fördersysteme zu diskutieren, und nicht die Grundfeste der kulturellen Gemeinschaft, ihre Identität, ihr Geschichtsbewusstsein, denen sich ja auch Bürger mit Migrationshintergrund verbunden fühlen wollen, zu zerstören. Leider wirkt der in vielerlei Hinsicht bedenkenswerte Vorstoß der vier Herren, die allesamt als Kulturverwalter über Jahrzehnte hervorragend bezahlt waren, wie ein letztes, etwas scheinheiliges Gefecht der 68er gegenüber einer vermeintlich „bürgerlichen Kultur“. Dies zieht ihrem Buch den Zahn. Viel Spaß trotzdem in Pattaya, Antalya oder auf Mallorca mit den aus Steuergeldern finanzierten Renten!
Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel, Stephan Opitz: Der Kulturinfarkt – Von allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention. | Albrecht Knaus Verlag | 288 S., 19,99 Euro
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