„In Zeiten wie diesen ist Fliehen der einzige Weg, um am Leben zu bleiben und weiter zu träumen.“ Dieser Satz wird dem Militärarzt und Chemiker Henri Laborit zugeschrieben – jetzt nutzt die Straßentheatergruppe Kamchátka aus Barcelona dieses Zitat als Ausgangspunkt für ihr interaktives Musiktheater „Fugit“. Damit greift ausgerechnet das 6. Kölner Fest für Alte Musik das brandaktuelle Thema aller Themen auf, und das zu Recht: Flucht beschäftigt die Menschheit seit biblischen Zeiten. Zwei Dutzend Konzerte und Veranstaltungen ranken sich an zwölf Tagen um diesen Event, das Fest expandiert alljährlich. Das Zentrum für Alte Musik, kurz ZAMUS, entwickelt sich beachtlich und belebt nachhaltig die Kölner Szene als bedeutendes Zentrum für die neue Sicht auf die Alte Musik. „Musiktheater im Zeichen der Flucht“ weckt natürlich besonderes Interesse.
Angeraten für potentielle Konzertbesucher sind dabei warme Kleidung, festes Schuhwerk und die Bereitschaft, sich an Grenzen führen zu lassen. Das klingt nicht nach Konzertsessel vor Blumen-Deko. Im Netz lassen sich erste Impressionen dieses interaktiven Theaters einfangen. Da schleichen geduckt Menschengruppen um die Häuser, verschanzen sich hinter Mülltonnen und verschwinden hinter fallenden Garagentoren. Neunzig Zuhörer bzw. Aktivisten werden pro Konzerttermin zugelassen, um sich diesem „hyperrealistischen Abenteuer“ zu stellen. Die katalanischen Künstler und Ideengeber sind patriotisch politisch motiviert, erst im letzten Jahr verabschiedete Katalonien eine Unabhängigkeitsresolution, um die Abspaltung von Spanien endlich zu erreichen – sie wurde gestoppt.
Die Compagnie Kamtschátka hat für die Kölner Fluchtvisionen ein eigenständiges Konzept entwickelt und verbindet „Fugit“ mit Musik von Barbara Strozzi bis Johann Sebastian Bach. Strozzi war Dichtertochter, engagierte Komponistin und bereits verstorben, als Bach 1685 geboren wurde. Es geht also zurück zu Musik, die von den frühen italienischen Opern und Madrigalen emotional aufgeladen wurde, mit komponiertem Seufzen und Schluchzen, interpretiert von der Sopranistin Gerlinde Sämann und dem zamus-ensemble.
Das ist natürlich nur ein herausgestellter Aspekt des Festes, das sich als Motto „I Have a Dream“ gewählt hat. Da entstehen „Nachtmusiken“, eine Lesart von Schuberts Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“ oder ein Wandelkonzert zum Thema „In Räumen träumen“. Ritter Rost und das Einhorn bestimmen ein Musiktheater für die ganze Familie, für Kinder wird inkl. Sockenkonzert einiges geboten. Bachs „Goldbergvariationen“ mit Benjamin Alard und eine szenische Erarbeitung der Bach-Kantate „Ich habe genug“ liefern ebenso Höhepunkte im Programm wie Musik des norddeutschen Barock mit Cantus Cölln und seinem Leiter Konrad Junghänel: Ein willkommenes Wiederhören mit dem einst an der Kölner Oper verdienten Spezialdirigenten für Alte Musik.
Kölner Fest für Alte Musik | 27.2. - 13.3. | Flora, Balloni-Hallen, Trinitatiskirche, Zamus | www.zamus.de
„Fugit“ | 2., 3., 4.3. 20 Uhr | Zamus | 0221 98 74 73 79
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Einfach mal anders
Das stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen geht eigene Wege – Festival 04/24
Das ganze Leben ist ein Spiel
zamus: early music festival in Köln – Klassik am Rhein 05/23
Zahlreiche Ansätze
zamus: early music festival in Köln – Festival 05/22
Zwischen Melancholie und Hoffnung
Das Klassik-Duo Hania Rani und Dobrawa Czocher im Stadtgarten – Musik 11/21
Ganz große Dramatik
Bonner Beethovenfest endet fulminant – Musik 9/21
Der Bürger als Flötenmann
Kölner Bürgerorchester in der Philharmonie – Klassik am Rhein 09/21
Virtuose Interpreten
Lucas und Arthur Jussen beim Klavier-Festival Ruhr – Klassik an der Ruhr 09/21
Geballte Power
Musikalischer Neustart in Köln – Klassik am Rhein 08/21
„Live-Konzerte sind unsere Raison d’être“
Generalmusikdirektor François-Xavier Roth über Chancen der Krise – Interview 07/21
„Musik ist Musik ist Musik“
Festivalleiter Ira Givol über die Zukunft der Alten Musik – Interview 06/21
Ein Chor im Lockdown
Virtuelle Gemeinsamkeit beim Kammerchor der Uni Köln – Klassik am Rhein 12/20
„Chöre sind wunderbare Musikvermittler“
Chefdirigent Nicolas Fink über den WDR Rundfunkchor – Interview 11/20
Blickwechsel in der Musikgeschichte
Drei Spezialisten der Alten Musik in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 03/24
Spiel mit den Elementen
Alexej Gerassimez & Friends im Konzerthaus Dortmund – Klassik an der Ruhr 03/24
Hellwaches Monheim
Das Rheinstädtchen punktet mit aktueller Kultur – Klassik am Rhein 02/24
Temperamentvoller Sonntag
Bosy Matinée mit Asya Fateyeva und Gemma New in Bochum – Klassik an der Ruhr 02/24
Keine Grenzen
Philharmonix in Dortmund und Düsseldorf – Klassik an der Ruhr 01/24
Abenteuerliche Installation
„Die Soldaten“ in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 01/24
„Herrliche Resonantz“
Avi Avital in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 12/23
Mit Micky Maus am Dirigierpult
Elim Chan und das Antwerp Symphony Orchestra in Dortmund – Klassik an der Ruhr 12/23
Musik aus drei Jahrhunderten
Quatuor Modigliani in der Philharmonie Köln – Klassik am Rhein 11/23
Mode und Stil
Tage Alter Musik 2023 in Herne – Klassik an der Ruhr 11/23
Aus dem Mekka der Saitenkunst
Die Kronberg Academy im DLF-Kammermusiksaal – Klassik am Rhein 10/23
Dreimal Tusch für Ohnesorg
Der Intendant des Klavierfestivals feiert seinen Abschied – Klassik an der Ruhr 10/23
Ravel-Marathon
Klaus Mäkelä dirigiert im Konzerthaus Dortmund – Klassik an der Ruhr 09/23