Stücke, die als Abschlussinszenierung einer Schauspielklasse herhalten müssen, sollten viele gleich gewichtete Rollen enthalten. Schließlich wollen alle Adepten sich vor Publikum zeigen. Und wenn die Figuren auch noch Jugendliche sind, ist das die halbe Miete. Schon deshalb gehört Frank Wedekinds Pubertätsdrama „Frühlings Erwachen“ zu den Favoriten aller Schauspielschulen. Gewalt in Familien, Leistungsdruck, ungewollte Schwangerschaft sind bis heute Thema bei Jugendlichen – wenn auch die Digitalisierung noch ein paar andere Probleme im Schlepptau hat.
Das Regieteam Sebastian Kreyer und Daniel Breitfelder (auch für Fassung, Bühne und Kostüme verantwortlich) hat nun Wedekinds Drama mit Absolvent:innen der Schauspielschule Der Keller inszeniert und macht den zeitlichen Abstand schon durch Kostüme und Accessoires wie historische Schulranzen, Pullunder und kurze Hosen deutlich. Aktuell bleibt das Stück trotzdem: Die Freundschaft zwischen dem bulligen Melchior (Yannik Dirksen) und dem verzweifelten Moritz (Lukas Brzenczek) wird in eine überzeugende Balance aus Eindringlichkeit und Komik gerückt – Wettwichsen, Leistungsdruck, Posen, Gewalttätigkeit, Erfahrungshunger, es ist alles da, was Pubertät ausmacht. Auch bei dem weiblichen Duo: Wendla (Lisa Langner) parodiert mit ätzendem Sarkasmus die Erziehungsdiskurse der Erwachsenen und schwärmt dunkel vom Masochismus, ihre Freundin Martha (Lisa Birnkott) dagegen versucht, die erfahrene häusliche Gewalt wegzulächeln. Unterfüttert wird der emotionale pubertäre Schleudergang mit selbstreferentieller Theaterkomik: Da wird über zu kleine Rollen geklagt, über die Eitelkeit der Kolleg:innen, über die stupide Regie – für die Darsteller:innen/Figuren zum Brüllen ätzend, für das Publikum zum Brüllen komisch. So weit, so gelungen.
Doch der Abend entwickelt allmählich Schlagseite. Die sexualisierten Versprecher sind Legion, der Slapstick wird gängige Münze, die Komik verselbstständigt sich sukzessive. Das ist auch einer dramaturgischen Notlage geschuldet: Da eben doch nicht alle Rollen gleich groß daherkommen, baut das Regieteam die Auftritte der Nebenfiguren zu Revuenummern aus. So der Auftritt von Ramona Petry als sich prostituierendes Modell Ilse, der zwischen Sekundenschlaf und absurder Überdrehtheit changiert; oder der des klebrig-kölsch schwadronierenden Lehrers (Philipp Joerres); oder Jonas Laiblins Act als moralisierende Mutter mit Schauz und Kittelschürze. Wohlgemerkt: Die Schauspielschüler:innen ziehen alle Register ihres Könnens und zeigen mit Bravour, was sie gelernt haben. Allerdings bleibt dabei Wedekinds Stück ein wenig auf der verkalauerten Strecke. Ausnahmen bilden die schrägen Auftritte von Paula Götz als Melchiors Mutter mit ihrem esoterisch-abgeklärten Blick aufs emotionale Gewühl. Und dann wäre das noch der einzige Liebes-Lichtblick im Drama: Das Duo Ernst (Moritz Reinisch) und Hänschen (Victor Maria Diderich), das zwischen tastender Neugier, Unsicherheit und Lust schließlich zueinander findet. Zur Berührung, zum Kuss und zum händchenhaltenden Abgang. Pubertät kann auch schön sein ...
Frühlings Erwachen: Baby, I‘m burning | R: Sebastian Kreyer, Daniel Breitfelder | 1., 16., 17.11., 19., 20., 31.12. | Theater der Keller, Köln | 0221 22 12 84 00
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