Mickey Saber ist am Arsch! Blaues Auge, nichts außer den Klamotten am Leib: ausgelatschte Schuhe, eine zerschlissene Jeans und ein Unterhemd. So sitzt er im Greyhound-Bus von L.A. nach Texas-City, einer desolaten Stadt, die zur Hälfte aus einer Raffinerie besteht. Dort wohnt seine Ehefrau mit ihrer Mutter. Saber scheint ein Typ zu sein, der nicht zum ersten Mal verbrannte Erde hinterlässt. Saber ist übrigens Mickeys Künstlername, obwohl er kein Künstler im engeren Sinn ist. Er war Pornostar, genau wie seine Frau. Sie nimmt nun Drogen und lebt von Sozialhilfe, er kurvt auf der Suche nach neuen Möglichkeiten mit einem klapprigen Rad die Straßen ab. Regisseur Sean Baker, der meist mit Laiendarstellern arbeitet, begibt sich mit seinen realistischen Szenarien immer wieder in soziale Randbereiche – zu den Underdogs. Nach „Starlet“ (2012), in „Tangerine L.A.“ (2015) und „The Florida Project“ (2017) begleitet er in „Red Rocket“ nun den abgestürzten Pornostar Saber, der mit Anfang vierzig vor dem Nichts steht. Für Simon Rex ist seine Hauptrolle in „Red Rocket“ (OmU im OFF Broadway und in den Lichtspielen Kalk) als Mickey so etwas wie ein Comeback auf der Metaebene. Denn auch er hat wie Mickey im Pornobusiness angefangen. Rex wirkt während der zwei Stunden Laufzeit wie dauerhaft auf Koks: Immer auf der Suche nach einem Ausweg aus seiner erbärmlichen Lage, spielt er sich und seiner Umgebung permanent etwas vor und bewirkt dadurch auf eigentümliche Weise auch bei seinen Mitmenschen einen Energieschub. Das Ergebnis seines manisch-getriebenen Handelns ist dadurch ambivalent, und auch Mickeys fiebrige Anspannung trägt zur Spannung des Films bei.
Ein Anruf, schnell los. Im Krankenhaus trifft Emanuèle (Sophie Marceau) ihre Schwester. Der Vater (André Dussollier) hatte einen Schlaganfall. Sie hat ihm Schokolade gebracht, er will etwas Salziges. Und er will, dass sie ihm dabei hilft, zu sterben. François Ozons vorletzter Film „Alles ist gutgegangen“ (Cinenova, Filmpalette) basiert auf dem Erlebnisbericht der Autorin Emanuèle Bernheim. In blassen Farben, unaufdringlich gespielt, unsentimental und ohne Moralisierung erzählt er seine Geschichte. Bemerkenswert sind die kleinen Dinge: wie ein angebissenes Sandwich aufbewahrt, umgepackt, eingefroren und schließlich entsorgt wird. Peu à peu enthüllt sich die Vorgeschichte der Familie, die Verletzungen. Neben der klugen Erzählweise überzeugt das Ensemble, darunter Charlotte Rampling als Mutter, Géraldine Pailhas als Schwester und Hanna Schygulla in einer Nebenrolle.
Eskil Vogt schreibt Drehbücher mit Joachim Trier („Thelma“). Und Vogt hat Kinder, von denen weiß er: „Sie führen ein geheimes Leben.“ So wie hier: Die Familie von Ida und ihrer autistischen Schwester zieht in eine Hochhaussiedlung. Dort lernen sie andere Kinder kennen, die über paranormale Fähigkeiten verfügen. Nicht jeder führt Gutes damit im Schilde. Die Kräfte, die in „The Innocents“ (Cinedom, OmU im OFF Broadway) walten, die Konflikte, die hier schwelen, kennen wir aus den Klassikern. Vogt aber verortet sie jenseits der Konventionen. Bis hin zum spektakulär unspektakulären Showdown erscheint alles ruhig und unaufgeregt – und zugleich liegen schon bald unsere Nerven blank. Mit scharfem Blick aufs soziale Gefüge und meisterlichem Spannungsaufbau bringt Vogt Unruhe in die Ruhe. Abgrundtief böse – ohne Getöse.
Außerdem neu in den Kinos: Mahamat-Saleh Harouns Frauendrama „Lingui“ (OmU in der Filmpalette), Sönke Wortmanns Lehrerzimmer-Showdown „Eingeschlossene Gesellschaft“ (Cinedom, Cinenova, Cineplex, Odeon, Residenz, Rex am Ring, UCI, Weisshaus) und Johannes Schmids Nöstlinger-Verfilmung „Geschichten vom Franz“ (Cinedom, Cinenova, Filmhaus, Metropolis, Odeon, Rex am Ring, UCI).
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