
The French Dispatch
USA, Deutschland 2021, Laufzeit: 103 Min., FSK 12
Regie: Wes Anderson
Darsteller: Benicio Del Toro, Frances McDormand, Mathieu Amalric, Bill Murray, Léa Seydoux, Timothée Chalamet, Jeffrey Wright, Elisabeth Moss, Owen Wilson, Tilda Swinton
>> www.thefrenchdispatch.de/
Mitreißendes Wes Anderson-Bilderbuch
Inspiration
„The French Dispatch“ von Wes Anderson
Inspiration ist alles! Das gilt für die Kunst an sich, das gilt sicherlich umso mehr für Wes Anderson. Und hier kommt seine neueste Wundertüte! Dabei wird die Inspiration diesmal selbst zum Thema, erwächst zum Spannungsbogen. Und das ist gut, denn der Spannungsbogen geht dem Regisseur auch mal verloren in seinen Werken, sei es zuletzt in seinem „Grand Budapest Hotel“, aber auch schon früher bei den „Royal Tenenbaums“ oder bei den „Tiefseetauchern“. Und auch wenn er in „Moonrise Kingdom“ eine kleine, tragende, wundervolle Liebesgeschichte zu erzählen wusste – viele seiner Wunderwerke liefern bei aller Liebreiz und Recherche inhaltlich vergleichsweise wenig Substanzielles. Erschwerend kam zuletzt hinzu, dass auch sein unverwechselbarer Stil, die gewitzt gefilmte und montierte Inszenierung, irgendwann auf der Stelle trat und sich irgendwann filmübergreifend abnutzte. Das alles und einiges mehr ändert sich nun mit „The French Dispatch“: Wir haben nicht mehr damit gerechnet, aber Wes Anderson übertrifft sich hier selbst und liefert ein Meisterwerk!
Als oberste Inspirationsquelle hält diesmal das amerikanische Magazin „The New Yorker“ her, das 1925 von dem Journalisten Harold Ross mitgegründet wurde. Ross war während des Ersten Weltkriegs in Frankreich unterwegs, wo er eine Militärzeitschrift ins Leben rief. Dort begegneten ihm bereits Autoren, die er später auch für das „New Yorker“ mit ins Boot holte. Ross und sein Redakteur William Shawn sind Vorbild für Andersons Figur Arthur Howitzer Jr. (Bill Muray). Aus „The New Yorker“ wird bei Anderson „The French Dispatch“, Sitz der Redaktion ist dann auch nicht New York, sondern der fiktive französische Ort Ennui-sur-Blasé.
Als Howitzer stirbt, versammeln sich seine Reporter im Büro und suchen gemeinsam Erinnerungen und letzte Worte. Anderson wirft derweil einen Blick zurück und erzählt von drei Begebenheiten, denen „The French Dispatch“ in der Vergangenheit Artikel gewidmet hat: Ein inhaftierter Maler (Benicio del Toro) findet in der Wärterin Simone (Léa Seydoux) seine Muse und wird von einem geldgeilen Kunsthändler (Adrien Brody) umworben. Ein Student und Schachgenie (Timothée Chalamet) stürzt sich in eine Revolte und liefert sich mit dem Bürgermeister ein Fernduell. Der Sohn eines Kommissars (Mathieu Amalric) wird entführt und will befreit werden. Drum herum: der aufgeweckte Off-Kommentar von Anjelica Huston. Mitten drin: Die Reporter von „The French Dispatch“, wiederum gezeichnet nach wahren Vorbildern und unter anderem verkörpert von Frances McDormand, Jeffrey Wright, Elisabeth Moss und Owen Wilson. Natürlich ist Tilda Swinton auch wieder mit dabei, und das Staraufgebot ließe sich, wie gewohnt, bis in den letzten Kurzauftritt rahmensprengend fortführen.
„The New Yorker“ positionierte sich seinerzeit als heiter gewitztes, kultiviertes Magazin mit satirischem Unterbau. Seinen Autoren ließ der Verlag größtmögliche Freiheit zur Entfaltung. Wes Anderson dürfte ein cineastisches Pendant darstellen. Es ist äußerst erfrischend anzusehen, wie der Filmemacher sein inszenatorisches Standardrepertoire hier nicht mehr nur selbst zitiert, sondern es originell erweitert: Auch hier dreht sich die Kamera in flotten 90-Grad-Schüben um die eigene Achse, auch hier werden große, aufwendig gestaltete und belebte Innenräume ohne vierte Wand akkurat abgefahren. Darüber hinaus dreht sich jetzt aber auch mal statt der Kamera ein Tablett, Anderson jongliert mit Farbe und Schwarzweiß und stellt aufwändige Freeze-Bilder. Gemeinsam mit dem französischen Illustrator Gwenn Germain entwirft der Regisseur charmante Zeichentrickpassagen – wobei selbst darin Andersons Handschrift erkennbar bleibt. Der Film sprudelt von kreativer Energie, Anderson tobt sich aus, entfaltet sich – mehr als zuletzt.
Und die Narration? Anderson erfüllt sich selbst einen Wunsch und vereint drei Kurzgeschichten zum episodischen Ganzen. Das sorgt spürbar für mehr Kurzweil, und wegen uns darf er gern bei diesem Rezept bleiben. Darüber hinaus kokettiert Wes Anderson erstmals mit Sinnlichkeit, philosophiert über das Wesen von Muse und Inspiration und diskutiert satirisch Rebellion, Kunst – und Kunstbetrachtung. Hinter „The French Dispatch“ steht ein reiferer Wes Anderson, der zugleich Bewährtes – die Kulissen sind eine Pracht! – und das Kind in sich bewahrt. Und wir freuen uns jetzt wieder umso mehr darauf, was da als nächstes folgt.
(Hartmut Ernst)
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