Sterben
Deutschland 2024, Laufzeit: 180 Min., FSK 16
Regie: Matthias Glasner
Darsteller: Lars Eidinger, Corinna Harfouch, Lilith Stangenberg, Anna Bederke, Ronald Zehrfeld, Hans Uwe Bauer, Robert Gwisdek, Saskia Rosendahl
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Alter und Tod, gezeigt in seltener Ehrlichkeit
Jeder gegen Jeden
„Sterben“ von Matthias Glasner
Tom (Lars Eidinger) und seine Mutter Lissy (Corinna Harfouch) sitzen am Küchentisch. Kuchenstücke aus der Konditorei vor, unangenehmes Schweigen zwischen ihnen. Es ist der triste Leichenschmaus von Toms verstorbenem Vater Gerd. Schwester Ellen ist gar nicht erst aufgetaucht. Die Mutter kündigt schulterzuckend an, auch bald sterben zu müssen. Sie bedauere das aber nicht, ihr Leben sei schließlich nicht so toll, dass man es jetzt noch lange hinauszögern müsse. Tom reagiert zunächst kaum. Erst zögerlich beginnen beide – vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben – ehrlich miteinander über ihre Mutter-Sohn-Beziehung zu sprechen. Wie sie erst vorsichtig, dann immer ungehemmter offenbaren, einander nie gemocht zu haben, tut weh und ist große Schauspielkunst. Es ist nur ein Besipiel für die pointierte Beiläufigkeit und Überzeichung, mit der Sterben die Dynamik einer ganz normal zerrütteten Familie auf den Punkt bringt.
In drei Stunden und sechs Kapiteln taucht der Film in das Leben der Lunies ein: Lissy Lunies ist von Diabetis, Nierenversagen und Krebs gezeichnet, allein ihr Verstand ist klar und kalt. Ihr Mann Gerd – äußerlich kaum fitter, mental bereits komplett abgetreten – ist ihr nur noch eine Last, die sie in ihren letzten Monaten nicht mehr tragen will. Sohn Tom (Lars Eidinger) lebt als mäßig erfolgreicher Dirigent in Berlin. Mit seiner Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) zieht er das Kind eines anderen groß, weil Liv den Erzeuger nicht leiden kann, als leiblichen Vater aber duldet. Neben diesem vertrackten Patchwork-Dreier kümmert sich Tom geduldig um seinen Freund Bernard („3 Tage in Quiberon“, auch bekannt als Musiker Käptn Peng). Der ist ebenso genial wie seit 20 Jahren unglücklich, zynisch und suizidal. Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) hat früh Reißaus genommen und hangelt sich entschieden selbstzerstörerisch von Vollrausch zu Vollrausch.
Glasner spielt in allen Kapiteln virtuos die volle Klaviatur von feiner Ironie bis zu brachialem, sogar splattrigen Humor. Sowohl die Dialoge als auch die Situationskomik sitzen in den meisten Szenen präzise. Schonungslos nimmt er außerdem versagende Körperfunktionen und das titelgebende Sterben in den Blick. Hier wird nichts verdrängt oder beschönigt, das Altern und seine Symptome sind gnadenlos und unaufhaltsam. Wenn Lissy Lunies die Kontrolle über ihren Darm verliert oder ihr Mann im Altenheim alleingelassen vor sich hin siecht, zeigt Glasner das ohne die im Film sonst prominente Überzeichnung, sondern so ehrlich und schonungslos, wie es selten zuvor zu sehen war.
Auf der Berlinale erhielt Glasner den Silbernen Bären für das beste Drehbuch. Nach „Der freie Wille“ (2006) und „Gnade“ (2012) war es seine dritte Einladung in den Wettbewerb. Für den Deutschen Filmpreis ist „Sterben“ insgesamt neunmal nominiert. Dass die Balance zwischen den bitterbösen und makabren Momenten und dem manchmal schwer verdaulichen Realismus größtenteils funktioniert, liegt auch an dem grandiosen Ensemble. Vor allem Lars Eidinger ist als ewig gleich- und gutmütiger Tom erfrischend gegen den Strich besetzt. Zwar ist er auch hier nicht der Sympathieträger – denn davon gibt es im Film keinen einzigen – er bleibt aber der Ruhepol der Handlung. Robert Gwisdek ist als sinnierend-melancholisches Genie genauso perfekt besetzt wie Corinna Harfouch (im echten Leben seine Mutter), die eine nur äußerlich gebrechliche Harpyie gibt und phänomenal runtergerockt aussieht. Allein Ellen (Lilith Stangenberg) ist von der ersten Einstellung an eine Spur zu „drüber“. Ihr Exzess wirkt wie der einer unsterblichen Comicfigur und ist zu übertrieben, um echte Empathie zu wecken.
Insgesamt beweist Glasner mit diesem Mix aus Überzeichung und Wahrhaftigkeit Mut zum Risiko. Er marschiert mit seiner Inszenierung derart furchtlos auf die essentiellen Themen des Lebens zu, dass er manchmal ins Straucheln gerät. Gerade diese Ausrutscher machen „Sterben“ erst zu einem besonderen Film, der viel über den Tod und alles, was bis dahin passieren kann, erzählt.
(Maxi Braun)
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