Norte - The End Of History
Philippinen 2014, Laufzeit: 250 Min.
Regie: Lav Diaz
Darsteller: Archie Alemania, Angeli Bayani, Sid Lucero
Langsam entfaltetes Gesellschaftsdrama
Liebe, Politik und Verbrechen
"Norte - The End of History" von Lav Diaz
Ein fremder Mann schenkt einer überraschten Gemüseverkäuferin viel Geld. Eine Frau steht mit ihren Kindern an einem Abgrund, bereit, sie hinunterzustoßen. Ein Mann schwebt in der Luft… Drei kurze Szenen aus einem über vierstündigen Film. Drei Szenen, die in ihrer Inszenierung zugleich so beiläufig, alltäglich erscheinen, und doch so sehr aufgeladen sind mit den dramatischen Ereignissen in „Norte – End of History“, dem neuen Film des philippinischen Regisseurs Lav Diaz. Diaz hat in letzter Zeit mit seinen Filmen für einige Aufregung gesorgt. Das liegt nicht zuletzt an der ungewöhnlichen Formatierung: Seine Filmografie setzt sich aus Dokumentarfilmen, Spielfilmen und Kurzfilmen zusammen. Letztere sind oft eine Art Prolog für den darauf folgenden Langfilm. Und lang darf man bei Diaz sehr wörtlich nehmen. Selten unter vier Stunden, oft bis zu sechs Stunden oder mehr Spielzeit haben seine Filme, sein „Death in the Land of Encantos“ von 2007 ist neun Stunden lang, „Evolution of a Filipino Family“ (2004) kommt auf über zehn Stunden Laufzeit. Im Sommer gewann sein aktueller Film „From What is Before“ in Locarno den Goldenen Leoparden, der mit knapp sechs Stunden eher kurz geraten ist. Warum diese Länge, warum dieses Extrem?
Action im Nebenraum
Lav Diaz selber sagt, die Länge an sich sei ein wichtiger Aspekt seines ästhetischen Konzepts. Das ist von Bedeutung, weil anders als bei einem Langfilmer wie Bela Tarr („Das Turiner Pferd“) die Filme von Diaz ansonsten in ihrer visuellen Gestaltung erst mal gar nicht auffällig sind. Wir sehen, wie Studenten debattieren, eine arme Familie ihren Alltag bewältigt und eine Kreditgeberin ihrer Arbeit nachgeht. Bis man die Figuren und den Ort der Handlung wirklich kennengelernt hat, ist schon mal eine klassische Spielfilmlänge verstrichen. Der Spannungsbogen ist in dieser Zeit eher eine gerade Linie als ein Bogen, die zudem nicht immer deutlich zu erkennen ist. Wenn dann tatsächlich dramatische Ereignisse die Leben der Protagonisten erschüttern, ist das Ereignis an sich recht unspektakulär und knapp inszeniert (oft nicht mal sichtbar, sondern im Nebenraum nur erahnbar), die Konsequenzen jedoch durchdringen jede der nun folgenden langen Einstellungen. Hier entfaltet Diaz’ Konzept seine ganze Kraft. Lav Diaz steht mit seinen Filmen nicht alleine da. Es gibt auf den Philippinen eine neue Welle, die angeführt von Regisseuren wie Brillante Mendoza, Khavn de la Cruz oder eben Diaz ein radikales Kino stärkt, das alleine schon von der Form her Aufmerksamkeit erregt: Mendoza mit seinem brutalen Realismus („Lola“, „Kinatay“) , Khavn mit seinem psychedelischen Bilder strudel („Mondomanila“, „Misericordia: The Last Mystery of Kristo Vampiro“) und Diaz mit seinen überlangen, betont ruhigen Beobachtungen. Zugleich verbindet die Filme, dass sie alle von einer gewalttätigen Gesellschaft sprechen. Diaz entfaltet das Thema immer entlang der Zeitachse – spricht, wenn nicht explizit wie in seinem neuesten Film „From What is Before“, zumindest indirekt auch immer von der jüngeren Geschichte des Landes, die geprägt ist von der 15-jährigen Diktatur von Marcos in den 70er und 80er Jahren. Im Norden („Norte“) wurde Marcos geboren, dort sind seine Familienmitglieder bis heute an der Macht, und die Folgen der Diktatur sind bis in die Gegenwart in zahlreichen Putschversuchen, Wahlfälschungen und Korruptionsskandalen im ganzen Land zu spüren.
Narrative Verschiebung
Eine der Hauptfiguren, der Jurastudent Fabian, der Dostojewskis Romanowitsch in „Schuld und Sühne“ nachempfunden ist, hält einmal in einem Café eine flammende Rede für den Kommunismus und den Anarchismus. Tatsächlich kommen seine politischen Ideen eher einem Pol Pot am nächsten. Als kurz darauf eine Frau vor dem Café ihren Verletzungen erliegt, ist er der Einzige, der keine Gemütsregung zeigt. Jetzt fühlt er sich, ganz wie Dostojewskis Romanowitsch, dazu befähigt, seinen Reden Taten folgen zu lassen. Anders als bei Dostojewski versagt in „Norte“ aber das Rechtssystem. Diaz überträgt Romanowitschs Schicksal auf eine andere Figur und öffnet dadurch ganz neue Implikationen, die auf die gesellschaftliche Situationen der Philippinen verweisen. Seit 1998 macht der 56-jährige Lav Diaz Filme. Bis vor kurzem geschah dies weitgehend unbemerkt von der westlichen Welt. Mit der Teilnahme in Cannes mit „Norte“ und dem Hauptpreis für seinen aktuellen Film in Locarno ändert sich dies, und dank eines mutigen Verleihs und ebenso mutiger Kinobetreiber kommt seine Arbeit nun auch nach Deutschland. Man sollte sich die 250 Minuten Zeit nehmen, um dieses Kino kennenzulernen. Für die 750 Seiten von „Schuld und Sühne“ braucht man jedenfalls unzählige Stunden mehr.
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