Ein großer romantischer Dichter mit seinen Fantasie- und Nachtstücken steht im Mittelpunkt dieser letzten, unvollendet gebliebenen Oper Jacques Offenbachs: E.T.A. Hoffmann. Der Komponist und sein Librettist Jules Barbier erfinden eine Geschichte rund um diese illustre Künstlerfigur, die die Gratwanderung zwischen Genialität und Scheitern drastisch vor Augen führt.
Hoffmanns Beziehung mit der Sängerin Stella ist am Ende. Er betrinkt sich und erzählt seinen Saufkumpanen von drei Liebensabenteuern, die allesamt in der Katastrophe enden. Drei Erzählungen folgen aufeinander, die nicht an etwas erinnern, was tatsächlich geschehen ist, sondern Projektionen der dichterischen Phantasie sind, in denen er das Scheitern seiner Beziehung verarbeitet. Er sieht drei Frauentypen in Stella: die seelenlose Olympia, die Künstlerin Antonia und die Kurtisane Giuletta. Hoffmanns Erzählungen über diese drei Frauen weichen atmosphärisch und stilistisch stark voneinander ab. Der Gesellschaftssatire im operettenhaften Olympia-Akt folgt die Musiksprache der großen romantischen Oper des Antonia-Aktes, an den sich das frivole Abenteuer mit Giuletta, ganz im Stile des Grand-Guignol, anschließt. In jedem der drei Akte verliebt sich Hoffmann, in jedem der drei Akte scheitert er an seinem Rivalen Lindorf, der in unterschiedlichen Gestalten erscheint, ihm die Geliebte entreißt und sie in zwei der Erzählungen sogar tötet: Olympia ist ein Automat, der am Ende außer Kontrolle gerät und zerbricht, die lungenkranke Sängerin Antonia verführt sein Widersacher zum todbringenden Gesang. Nur Giuletta, die Kurtisane, überlebt und verlacht Hoffmann, nachdem er im Eifersuchtswahn einen Wehrlosen ermordet und sein eigenes Spiegelbild verloren hat.
Nach Offenbachs ursprünglichen Plänen sollten die vier Sopranpartien von einer Sängerin gesungen werden, was dramaturgisch konsequent ist, aber wegen der unterschiedlichen Stimmfächer enorme Anforderungen an die Sängerin stellt und heute, je nach Besetzungsvermögen eines Theaters, unterschiedlich gelöst wird. Auch die Frage der Fassung stellt sich mit jeder Inszenierung neu, da Offenbach vor Vollendung der Oper im Oktober 1880 starb und eine verwirrende Fülle von Skizzenmaterial hinterlassen hat.
Alle drei Erzählungen enden mit einem verzweifelten, verlachten und vorgeführten Hoffmann. Sie beschreiben, wie er sich selbst im Verhältnis zur Gesellschaft sieht: Er ist ein Außenseiter. Seine eigene zerrissene Gefühlswelt und sein zerrüttetes Verhältnis zu Stella hat er in seinen Geschichten chiffriert und transformiert. Erzählendes Ich und erzähltes Ich gehen ineinander über und bespiegeln sich gegenseitig, die Realität geht in die Fiktion über, und die Fiktion wirkt in die Realität hinein. Seine Sehnsucht nach Liebe bleibt unerfüllt. Die musikalisch ergreifende Verklärung, die die Muse am Ende der Erzählungen zu initiieren weiß, kann nicht über das Scheitern Hoffmanns hinwegtäuschen. Er ist ein Opfer seines Alkoholismus, und auch seine Saufkumpanen haben kein Mitleid mit ihm: Als Mensch bleibt er unverstanden und einsam.
„Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach I Aalto-Theater Essen I 1./4./6./10./13./17./19./27./30.11./26.12.
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