Sechzig Minuten steigert sich purer abstrakter Tanz mit klar abgezirkelten Bewegungen zu einem Rausch schnell wechselnder Formen und Formationen. Arme und Beine schießen gestreckt vom Körper, Knie werden im Sprung angezogen, mit beiden Armen wird von unten der Schwung für eine Streckung geholt. Es wird gehüpft und gesprungen, alles mit einem Lachen und heiterer Gelassenheit. Gelegentlich treffen sich sogar zwei zu einer Hebung oder zur körpernahen Umrundung. Weitgehend aber ist es ein Tanz einzelner, deren Bewegungen sich jedoch immer wieder der Gruppe unterordnen. Wesentlicher Bestandteil der lockeren zeitgenössischen Bewegungen ist auch klassisches Schrittvokabular. Besonders gern spielen die Tänzerinnen und Tänzer mit dem Grand Jeté, dem schönsten Ballettsprung, auch wenn er hier nicht im Spagat endet. Impulsgeber für dieses Wiegen und Wogen der Bewegungen in „Drumming“ ist die gleichnamige Minimal Music von Steve Reich. Reich stand noch am Anfang seiner kompositorischen Karriere und die Minimal Music steuerte bereits auf ihren Höhepunkt zu, als er 1970 dieses Percussion-Stück komponierte. Wie schon in anderen Tanzstücken von De Keersmaeker gehen auch in „Drumming“ Musik und Tanz eine weitgehend symbiotische Beziehung ein. Harmonische und gegensätzliche Bewegungen und Bewegungsabläufe stehen nicht unversöhnlich nebeneinander, sondern vereinen sich zu einem Ganzen. Plus und Minus. Yin und Yang. Die Choreografie spielt mit diesen polar einander entgegen gesetzten und dennoch aufeinander bezogenen Kräften. Die eben noch in kleinen Formationen gegeneinander anlaufenden Tänzerinnen und Tänzer vereinen sich schon im nächsten Moment in einer gemeinsamen synchronen Bewegung. Oft werden Reihen oder Linien gebildet, die Einzelne zu durchbrechen suchen oder aus denen sie ausscheren zu eigenen Soli. „Drumming“ ist in seiner choreografischen Struktur so einfach und zugleich so komplex, das jede einzelne Bewegung, jedes Solo und jede Variation seine Berechtigung für sich und in der Gesamtkomposition erhalten. Genau diese Verbindung von Harmonischem und Gegensätzlichem macht die Faszination dieses Klassikers des modernen Tanzes aus. Mit Bongotrommeln, Marimbaphone, Glockenspiel und Flöten und zum Höhepunkt in der Kombination aller Instrumente breiten die Musiker der Gruppe Ictus mit Steve Reichs wiederkehrenden Minimal-Rhythmus einen Klangteppich aus, auf dem Anne Teresa De Keersmaeker eine heute immer noch frische und zeitlose choreografische Struktur entwickelt. Wie die Choreografie ist auch die Musik einfach und komplex zugleich, denn sie folgt im Grunde einem einzigen rhythmischen Grundmodell, dessen Melodie wiederholt und immer wieder gegeneinander verschoben wird. Beides, Musik und Tanz, machen „Drumming“ zu einem künstlerischen Genuss.
Nächstes Gastspiel: 01./02. März 2013, Aterballetto: Canto per Orfeo
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