Laub liegt auf dem Boden der Halle Kalk, die zur Gänze aufgerissen dem Shabby-Schick der Industrieromantik frönt – blätternder Putz, schattiges Halbdunkel, ein schweres Rolltor – und schließlich auch, ja, als letztes Bild: ein offenes Fenster, vor dem sich im leichten Wind die Vorhänge blähen. Angst vor Pathos kann man der englischen Regisseurin Katie Mitchell jedenfalls nicht nachsagen. Selten wurde die Schönheit des Zerfalls so ironiefrei zelebriert wie in diesem ihrem Theaterfilm, der W.G. Sebald Buchs „Die Ringe des Saturns“ adaptiert.
Es handelt sich dabei um einen Reisebericht einer – dem Untertitel nach – englischen Wallfahrt. Insofern ist der Weg das Ziel, oder wie Sebald selbst sagt, es geht um die „kontemplative Übung“ des gleichzeitigen Gehens und Denkens. Der Bericht protokolliert seine Wanderung durch Suffolk, einem dünn besiedelten Landstrich an der englischen Ostküste. Eindrücke, Assoziationen, Reflexionen aus dem August 1992 mischen sich mit Geschichten vergangener Zeiten zu einem mäandernden Strom melancholischer Weltbetrachtung. Nicht eben ein leichter Textsortenmix für die Bühne.
Katie Mitchells Auseinandersetzung mit Sebald ist dann auch weniger Theater als vielmehr eine cinematographische Installation. Ihre künstlerische Handschrift kennt man in Köln inzwischen aus zwei anderen – hochgelobten – Produktionen („Wunschkonzert“ und „Die Wellen“): Erst zerlegt sie die Plurimedialität des Theaters in ihre Einzelbestandteile, um sie dann mit Hilfe der Mittel des Films zu einer neuen Form zusammenzusetzen. Konkret sehen wir Geräuschemacher, wie sie live eine Tonspur produzieren, hören, wie die Schauspieler den Text lesen, während Filmbilder – in diesem Fall muss man es leider so sagen – der Fantasie den Garaus machen. Die zumeist dreiteilige Bildkomposition hoch oben an der Wand bekräftigt und verdoppelt den Text in einer allzu offenkundigen Art und Weise.
Dabei hat Mitchell Sebalds überbordenden Text für die Uraufführung durchaus sinnvoll gekürzt und in eine dramaturgische Struktur gebracht. So dient ihr die Ausgangssituation des Reiseberichts als roter Faden: Der Ich-Erzähler wird in ein Krankenhaus eingeliefert, erinnert sich – in „einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit“ – an seine Wanderung und beginnt „in Gedanken“ mit der Niederschrift. Diese Szene lässt Mitchell in einem eigenen Bühnenraum spielen und überträgt sie in schwarz-weiß per Live-Kamera. Immer wieder kommt sie auf diese Situation zurück, blickt ein Mann (Juro Mikus) in vollendeter Schwermut in die Kamera und imaginiert diese seine anscheinend letzte Reise. Denn auch das sind die „Ringe des Saturn“: ein Totenbuch, trauernd um die tatsächlichen Toten verschiedener Kriege, trauernd aber auch um die Vergänglichkeit allen Seins.
In Katie Mitchells Fassung kann man sich – als Zuschauer ebenso zur Unbeweglichkeit verdammt wie der Protagonist – mitnehmen lassen auf eine imaginäre Reise, die mit einem Vorzug der Deutlichkeit ausgestattet ist. Diskreter freilich ist die eigene Lektüre.
„Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt“ von W.G. Sebald. Fassung von Katie Mitchell | Regie: Katie Mitchell | Halle Kalk | keine Termine im Juni | www.schauspielkoeln.de
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