Entrückt steht Eva auf dem höchsten Punkt der raumgreifenden Rutschbahn, dort wo der Aufstieg in den Niedergang übergeht. Ein Scheinwerfer leuchtet die Tochter des Großbauers Puntila aus dem Dunkel heraus. Für einen Moment dem irdischen Getriebe entrückt, doch nicht unangreifbar. Gerade hat Eva die Ehefrauen-Examinierung durch den Chauffeur Matti mit Pauken und Trompeten versemmelt, da holt ihr Vater zum Schlag aus und verstößt sie. Plötzlich ist die Komik in Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ wie weggewischt und lässt so etwas wie Erschrecken und Fallhöhe ahnen.
Es bleibt der einzige Moment, in dem Herberts Fritschs umtriebige Inszenierung einmal zur Ruhe kommt. Ansonsten läuft die Theatermaschinerie auf Hochtouren im Kölner Schauspielhaus. Charly Hübners Puntila ist eine Baal-Figur. Ein Hedonist im blauen Anzug, der gleich zu Beginn vier Frauen, von der Schmugglermama bis zu einer Telefonistin, gleichzeitig anmacht, der säuft und sich zusammen mit dem Richter in roter Korsage (Robert Dölle) vergnügt. Ein Großgrundbesitzer mit ausgeprägter Fall- und Torkelsucht, die ihn den ganzen Abend im Griff hält. Ist das Leben also ein einziges Delirium, oder macht das Delirium das Leben erst erträglich?
Die dialektische Volte in Brechts 1940 geschriebenem Stück liegt im Rausch, der Puntila erst zum Menschen werden lässt, während ihn nüchtern der menschenverachtende Kapitalistenfuror packt. Diesen Umschlag unterspielt die Inszenierung weitgehend. Fritsch setzt Brecht unter Strom, schließt ihn mit einer Ästhetik zwischen Stummfilm, Slapstick und Screwball-Comedy kurz: aufgerissene Augen, offenstehende Münder, rudernde Arme, permanente Motorik – verfremdete Verfremdung. Immerhin: In der der großen Szene auf dem Gesindemarkt lässt Fritsch keinen Zweifel, was er von dem sich verdingenden Prekariat hält. Die Arbeitssuchenden stecken in altertümlicher Ganzkörperunterwäsche und trotten glatzköpfig-lemurenhaft über die Bühne, Arbeiter-Nosferatus auf der Suche nach einem Job.
Oft wirkt das Outrierte hier allerdings einfach nur unscharf – was mit der mäßigen Akkuratesse der Kölner Darsteller und einer Sprechkultur zu tun hat, die bereits im zweiten Parkett den Text im Nuschelnirwana verschwinden lässt. Besonders Michael Wittenborn als Matti mit Diskantstimme ist kaum zu verstehen. Sein Chauffeur im roten Dienstanzug mit Stiefeln ist ein verbiesterter Knecht, irgendwo zwischen Erich von Strohheim-Karikatur und einer Hitlerpersiflage mit schnarrender Diktion und steifem linkem Arm. Er bildet zwar den statischen Gegenpol zu Puntila – was allerdings die lasziv-überdrehte Eva (Angelika Richter) an ihm fasziniert, ist kaum nachzuvollziehen. Werner Fritsch gibt dem Affen kräftig Zucker, da wird auf der Großrutsche vor einem naiven Landschaftsprospekt viel geklettert (Bühne: Janina Audick), Chöre, die im Stück nicht vorkommen, übererfüllen das epische Plansoll, Schauspieler wie Anja Laïs, Michael Weber oder Maik Solbach kommen nie zur Ruhe – doch worauf die Interpretation letztlich hinauswill, geht irgendwann im Getriebe unter.
„Herr Puntila und sein Knecht Matti“ von Bertolt Brecht | R: Herbert Fritsch | Schauspiel Köln | 3./10./11. (16 Uhr)/20./28.3., 19.30 Uhr | www.schauspielkoeln.de
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