Kolumba als Museum der Diözese besitzt eine tolle, manchmal zu kurz kommende Sammlung zu sakraler Kunst und Kultur seit dem Mittelalter, die assoziativ mit Gegenwartskunst sowie Design des 20. Jahrhundert verwoben wird. Jeweils im Herbst wechselt die Ausstellung. Aber es gibt einige Leitkünstler – Paul Thek, Bernhard Leitner, Anna und Bernhard Johannes Blume etwa – und einzelne Werke, welche permanent auftreten, die „Veilchenmadonna“ von Stefan Lochner oder die „Tragedia Civile“ von Jannis Kounellis. Viele der zeitgenössischen Künstler leben oder lebten in Köln, bleiben einzelgängerisch und fürchten in ihrem Werk weder Tod noch Teufel noch Kunstkritik – wie wunderbar! In der neuen Jahresausstellung nun vermitteln sie ihre Perspektiven auf geschichtliche Zäsuren im 20. Jahrhundert hierzulande, wobei „Aufbruch“ auch symbolisch für heute gelten soll.
Viele Papierarbeiten gibt es diesmal zu sehen, gleich im ersten Stockwerk. Sie handeln vom Umgang mit dem Ersten Weltkrieg, den Erfahrungen an der Front und der Rolle des christlichen Glaubens. Die Zwischenkriegsjahre waren die Zeit der Avantgarden, etwa mit den Gruppen „Junges Rheinland“ und „Kölner Progressive“ und mit den Dadaisten, die sich ebenfalls in Köln in Szene setzten, ebenso wie das Bauhaus, dessen Manifest 1919 entstand. Später fand der Aufbruch aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs statt. 1949 wurde die Kolumba-Kapelle geweiht.
Für das Zurechtfinden der Kunst in den Nachkriegsjahren werden Werke der informellen Maler Hann Trier, Joseph Faßbender, Hubert Berke oder Werner Schriefers hinzugezogen. Mitunter verweist die Ausstellung auf die Literatur (etwa die Gruppe 47 oder Heinrich Böll), wobei die späten 1960er Jahre mit der Politisierung der Kunst unscharf bleiben. Betont wird hingegen ihre Unangepasstheit, schon im Aufkommen individueller Mythologien und im Interesse an der Ethnologie, besonders mit Michael Buthe und Michael Oppitz. Ein bisschen setzt sich das fort im 1986 von Ulrich Tillmann mit Bettina Gruber und Maria Vedder in Köln erfundenen fiktiven „Klaus Peter Schnüttger-Webs Museum“, das Tillmann fast vier Jahrzehnte beschäftigt hat und in Kolumba in adäquate Form gesetzt ist. Von hier hört man bereits das Grammophon aus André Philip Lemkes „Circus 3001“, das übrigens vor einem Jahrzehnt in seiner Ausstellung „back in town“ in der artothek zu sehen war: Im allerletzten Raum in Kolumba werden die Reste vom Lemkes Zirkus nun, gemeinsam mit zwei Bildern von Blalla W. Hallmann, wieder aufgeführt.
Ganz am Anfang der Jahresausstellung aber steht eine Skulptur der ebenfalls hier ansässigen, großartigen Victoria Bell. Mit dem Material Holz greift sie Duchamps Metapher des Propellers mit archaischen Mitteln auf und hinterfragt so technischen Fortschritt und wissenschaftliche Erkenntnisse. Geht Fortschritt nicht mit Aufbruch einher und erwächst die beste Kunst nicht aus Bedürfnissen und Krisenzeiten? Dass Victoria Bell noch auf die Überwindung der Schwerkraft und indirekt die Raumfahrt anspielt, die ein Bild von Blalla Hallmann mit einer hier auch ausgestellten Skulptur von Erich Bödeker verbindet: umso besser, umso komplexer.
1919 49 69ff. Aufbrüche | bis 17.8.20 | Kolumba | 0221 93 31 93 32
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Gelassen anspruchsvolles Sehen und Lesen
Kolumba zeigt „In die Weite – Aspekte jüdischen Lebens in Deutschland“ – kunst & gut 03/22
Geschichte ausstellen
„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ im Kolumba
Der Körper aus verschiedenen Perspektiven
Jahresausstellung in Kolumba: „Das kleine Spiel zwischen dem Ich und dem Mir“ – kunst & gut 08/21
Malerei ohne Gewicht
Heiner Binding in Kolumba – kunst & gut 03/19
Im Dialog mit Gästen
„Pas de deux“ im Kolumba – kunst & gut 04/18
Viele Handschriften
„Über das Individuum“ – Die Jahresausstellung im Kolumba – kunst & gut 01/17
Theorie in der Praxis
Bethan Huws in Kolumba – Kunst in NRW 06/16
Die Enthüllung des Unsichtbaren
Suzie Larkes „Unseen“ im Stadtgarten – Kunst & gut
„Den Menschen muss man sofort helfen“
Flaca spendet Einnahmen von Bild – Interview 05/22
Die ernste Heiterkeit des Tödleins
Harald Naegeli im Dialog mit dem Museum Schnütgen – kunst & gut 05/22
Schnappatmung der Kunst
„Die Welt in der Schwebe“ im Bonner Kunstmuseum – Kunstwandel 05/22
Entlang der Silberspur
ADKDW: „Potosí-Prinzip – Archiv“ – kunst & gut 04/22
Aus dem Schatten ins Licht
Ein Abschied, ein Buch und andere Bilder im Käthe Kollwitz Museum – kunst & gut 04/22
Eine Ikone des Feminismus
Simone de Beauvoir-Ausstellung in der BKH Bonn – Kunstwandel 04/22
Die Blässe des Meeres
Marzena Skubatz im Fotoraum Köln – kunst & gut 03/22
Geschichten eines Augenblicks
Museum Ludwig zeigt Werkschau „Voiceover“ – kunst & gut 03/22
Reise ins Körpergehäuse
Maria Lassnig im Kunstmuseum Bonn – Kunstwandel 03/22
Wenn das Zuhause weggebaggert wird
„Heimat – Eine Suche“ im Haus der Geschichte Bonn – Kunstwandel 02/22
Reichtum der Symbole
Ariel Schlesinger in der Kunst-Station Sankt Peter – kunst & gut 02/22
Gute-Nacht-Geschichten mit Gesellschaftskritik
Alicja Rogalska in der Kölner Temporary Gallery – Kunst 01/22
Der Zauberfrosch hat Durchblick
„Surreale Tierwesen“ im Max Ernst Museum des LVR – Kunstwandel 01/22
Auflösungen der Form
Leiko Ikemura bei Karsten Greve – kunst & gut 01/22
Im Schein des Mondes
Yoshitoshi: ein Meister des Holzschnitts im Museum für Ostasiatische Kunst – kunst & gut 12/21
Ursachen der kunstvollen Wirkung
„Passierschein in die Zukunft“ im Kunstmuseum Bonn – Kunstwandel 12/21