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Der Historiker Gideon Greif
Foto: Malka u. Yoram Weinberg, Ramat Gan, Israel

Zweimal Auschwitz überlebt

03. Dezember 2014

Prof. Gideon Greif über die Ausstellung „Todesfabrik Auschwitz“

Ein Gespräch mit Prof. Gideon Greif, israelischer Historiker, der mit seinem Bestseller „Wir weinten tränenlos“ eines der Standardwerke der Holocaust-Forschung verfasste. Gemeinsam entwickelte er als Kurator mit Peter Siebers die Ausstellung „Todesfabrik Auschwitz“, die derzeit im NS Dokumentationszentrum der Stadt Köln zu sehen ist. Im Interview schildert er die Realität im Alltag des Lagers.

choices: Wie ist die Ausstellung zu ihrem Titel gekommen?
Prof. Greif:
Mit der Verfolgung der jüdischen Bürger hat Nazi-Deutschland nichts Neues erfunden. Ghettos gab es schon im Mittelalter, auch den gelben Flecken trug man seit dieser Zeit und Juden wurden schon vor 3000 Jahren nur aufgrund ihrer Herkunft in Alexandria ermordet. Neu sind die sechs Todeszentren, mit denen die „Endlösung der Judenfrage“ realisiert werden sollte. Sie sind ein deutsches Patent, denn nie zuvor gab es einen Ort, an dem das Morden industriell betrieben wurde. Auschwitz ähnelte in allem einer Mordfabrik: Es gab ein Fließband, es gab Arbeitsschichten, Mitarbeiter, eine Hierarchie und einen Direktor. Nach der Verbrennung zerstückelte man die Leichen. Das Rohmaterial waren lebendige Menschen, das Produkt die Asche. Zudem existierte unablässig die Tendenz zu expandieren. Auschwitz wuchs und wuchs, zunächst war das Lager für 10.000 Häftlinge gedacht, dann für 100.000, dann für 200.000, zugleich modernisierte sich das Lager, um die „Produktion“ zu steigern.

Sie sprechen in der Ausstellung von einer „Kluft“, die sich aufgetan hat zwischen der Normalität gesellschaftlichen Lebens und der Realität im Lager.
Ja, in allem gab es eine Umkehrung der Werte. Das erste der zehn Gebote lautete: Du sollst morden! Ein Beispiel ist die Medizin. Sie dient normalerweise dazu, Menschen zu heilen und nicht dazu, sie zu quälen, invalide zu machen oder sie zu töten. In Auschwitz erhält die Medizin eine kriminelle, mörderische Dimension. Es gab abscheuliche Operationen, bei denen absichtlich keine Narkose verwendet wurde, obwohl sie vorhanden war. Die „Patienten“ wurden gequält und verstümmelt.

Wann kamen die ersten jüdischen Häftlinge nach Auschwitz?
Das Stammlager war ursprünglich ein Konzentrationslager für polnische Häftlinge und Birkenau sollte ein großes Lager für sowjetische Kriegsgefangene werden. Ende 1941 setzte man erstmals das Gas als Tötungsmittel im Stammlager ein. Mit der am Wannsee beschlossenen „Endlösung“ wurde die Massentötung dann nach Birkenau verlegt. Am 26. März 1942 kam aus der Slowakei der erste Transport mit 999 jüdischen Frauen nach Auschwitz. Es sollten 1000 sein, aber eine hatte sich versteckt.

Welche Rolle spielte die Sprache?
Auschwitz war eine Welt für sich. Wer Deutsch als Muttersprache sprach, hatte glänzende Überlebenschancen. Wenn sich ein SS-Mann mit einem Juden auf Deutsch unterhielt und der vielleicht sogar noch den gleichen Dialekt beherrschte, waren sie schon fast „befreundet“. Kam der Häftling aus Polen oder Griechenland und konnte sich nicht verständigen, steigerte dies nur noch die Wut der SS.

Auf den Bauplänen des Lagers, die für die Ausstellung von Peter Siebers erstellt wurden und erstmals die komplette Anlage abbilden, ist auch die Villa von Rudolf Höß verzeichnet, dem Kommandanten von Auschwitz. Konnten seine Kinder sehen, was sich im Lager abspielte?
Höß lebte im Stammlager einen Katzensprung von der ersten Gaskammer entfernt. Es gibt einen etwa 40 Meter langen Grasstreifen zwischen Villa und Gaskammer, dort haben die Kinder des Kommandanten Fußball gespielt. In die Villa kamen zahlreiche Gäste. Es gibt ein Gästebuch, das heute in Yad Vaschem aufbewahrt wird, darin schrieben die Besucher wie „angenehm“ und „gemütlich“ der Aufenthalt war. Die Familie Höß konnte dort gut leben, es hat sie nicht gestört, dass Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe erschlagen wurden. Den Menschen stört das nicht. Man fragt sich, wie ist das möglich? Es ist möglich!

In Birkenau existierte ein Bordell.
Ja, aber jüdische Frauen wurden nicht zur Prostitution gezwungen, weil ihr Einsatz den Rassegesetzen widersprochen hätte. Allerdings gab es im Lager mehrere jüdische Funktionshäftlinge, die den Besuch als Bonus erhielten. Sie bekamen dazu einen blauen Bon, tatsächlich haben wir einen in Yad Vashem. Bordelle gab es auch in anderen Konzentrationslagern.

Existierten enge Beziehungen zwischen dem Wachpersonal und den Häftlingen?
Es gab sogar romantische Beziehungen zwischen SS-Männern und Jüdinnen. Der SS-Offizier Hans Wunsch aus Wien zum Beispiel verliebte sich in Hindjo Citron. Man sagt, sie sei bildschön gewesen. Er hat ihr tatsächlich geholfen, indem er ihre Schwester rettete, deren dreijähriges Kind er allerdings nicht retten konnte. Der Häftling Jakob Freimark hat die beiden ertappt. Wunsch ist mit der Pistole hinter ihm her, aber Freimark konnte ihm entkommen. Auch er hat das Lager überlebt.

Vier Häftlingen gelang die Flucht aus dem Lager.
Ja, und worüber nur selten gesprochen wird, ist die Tatsache, dass es einen Häftling gab, der zweimal erfolgreich flüchtete. Die bekanntesten Häftlinge waren vier Juden, die im Frühling des Jahres 1944 aus Birkenau geflohen sind, um die ungarischen Juden vor den Gefahren zu warnen, die in Auschwitz auf sie warteten. Die vier flohen zu zwei Paaren. Einer von ihnen, Czeslaw Mordowicz, wurde wenige Wochen später wieder aufgegriffen. Er wurde nochmals nach Birkenau deportiert. Im Zug nach Auschwitz versuchte er die Hautstelle mit der bereits tätowierten Häftlingsnummer zu essen. Das gelang ihm aber nicht. Auf der Rampe in Auschwitz erkannten ihn die anderen Häftlinge sofort und schleusten ihn zu einem Tätowierer, der die Nummer zu einer Blume verzierte und damit unkenntlich machte. Mordowicz wurde später von der Untergrundbewegung im Lager mit einem Zug ein zweites Mal erfolgreich aus Auschwitz heraus geschmuggelt. Ich selbst habe die tätowierte Blume gesehen. Mordowicz lebte in Toronto und wurde im hohen Alter auf einer Straße unterhalb seines Hauses überfahren.

In seinem als S. Fischer Taschenbuch erschienenen Band „Wir weinten tränenlos...“ sammelte Gideon Greif Augenzeugenberichten des jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz.

Interview: Thomas Linden

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