Der Tatort, an dem das größte Verbrechen der Menschheit begangen wurde, ist vom akuten Verfall bedroht. Auschwitz-Birkenau wurde zerstört, noch bevor die Wachmannschaften vor der heranrückenden Roten Armee fliehen konnten. Nur das Stammlager auf dem rund 40 Hektar großen Gelände blieb erhalten. In ihm ist das Zentrum der Gedenkstätte untergebracht. Bis heute konnte man sich aber keine genaue Vorstellung von der kompletten Anlage des Konzentrationslagers machen. Jetzt wartet das NS Dokumentationszentrum der Stadt Köln jedoch mit einer „Weltneuheit“ auf, wie sein Direktor, Werner Jung, erklärt. In einer sich über Jahre erstreckenden Zusammenarbeit mit dem Historiker Gideon Greif aus Tel Aviv konnte der Kölner Bauzeichner Peter Siebers anhand der noch vorhandenen Architekturzeichnungen eine umfassende Rekonstruktion des Lagers und aller zentralen Gebäude mit isometrischen Darstellungen, Schnitten und Ansichten erstellen.
Ein Modell wurde gebaut, das detaillierte Rekonstruktionen bis zur Verortung der Hundezwinger oder der Experimentierbaracken zulässt, in denen die deutschen Ärzte bestialische Menschenversuche durchführten. „Die Fragen, was in welchen Räumen geschah, lassen sich jetzt beantworten“, sagt Jürgen Müller, Organisator der Ausstellung „Todesfabrik Auschwitz“. Beim Blick auf das Modell fällt zum Beispiel eine Mauer auf, die eine Lagerstraße teilt. „Dort wurden Häftlinge erschossen“, erklärt Müller, „wahrscheinlich etwa 20 000“.
Die Ausstellung ist mit zwölf Medienstationen ausgestattet, die Fakten liefern und die Hintergründe zu den drei angefertigten Großplänen, den 50 Zeichnungen aus dem Bereich Architektur und Technik sowie den Häftlingszeichnungen liefern. Rekonstruiert wurde ein Krematorium, sodass man eine Vorstellung vom Geschehen im Lager erhält.
Wie soll man die Hölle darstellen? Darauf gibt es keine Antwort, aber Faktenmaterial hilft Abläufe und Organisation zu verstehen. Von großer Bedeutung ist die Ausstellung auch deshalb, weil sich nun bis in kleinste Details beweisen lässt, wie diese sogenannte „Todesfabrik“ auf das Ziel hin konzipiert war, effizient zu töten. Ingenieure und Architekten wie Albert Speer hätten sich nicht mehr so leicht ihrer Verantwortung entziehen können, wäre man vor 40 Jahren im Besitz solcher Rekonstruktionen gewesen.
„Man glaubt nicht, zu welchen Leistungen Deutsche Ingenieure in der Lage waren, um eine möglichst große Zahl an Menschen zu ermorden“, konstatiert Werner Jung fassungslos. Routine gibt es bei der Beschäftigung mit diesem Thema nicht, wie sollte das auch möglich sein, wenn man verstanden hat, wie raffiniert zum Beispiel die Techniker der Firma Topf & Söhne die Öfen angelegt hatten, um durch Vorheizen die maximale Leistung aus ihnen herauszuholen.
In Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte ist die Ausstellung entstanden, aber die Modelle und Rekonstruktionen aus Köln wurden noch nicht für den Bestand angefragt. Gleichwohl wird mit diesem Material ein neues Kapitel in der historischen Forschung der Vernichtungslager aufgeschlagen.
„Todesfabrik Auschwitz – Topographie und Alltag in einem Konzentrations- und Vernichtungslager“ | 20.11.-3.5.15 | NS – Dokumentationszentrum der Stadt Köln | 0221 221 263 32
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