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Ismet Büyük, Ayfer Sentürk Demir und Kutlu Yurtseven in „Die Lücke“
Foto: David Baltzer

Tiefgefrorene Empathie

26. Juni 2014

Nuran David Calis thematisiert in „Die Lücke“ die Folgen des NSU-Anschlags 2004 auf der Keupstraße – Auftritt 07/14

Den ethnologischen Blick auf sich selbst richten, das gehört zu den großen Errungenschaften, aber auch den anspruchsvollen Haltungen der Moderne. Selbstentfremdung als produktives Verfahren, das ist auch etwas, das uns Nuran David Calis' überzeugender und bewegender Abend „Die Lücke. Ein Stück Keupstraße“ zu allererst nahebringt. Wer sich an ein Stück über die Straße und den Nagelbombenanschlag vom 9. Juni 2004 wagt, beginnt mit einer Feldforschung. So hat auch Calis unter Anwohnern, Anwälten, Polizisten recherchiert, und dem setzt er auch die Zuschauer aus – allerdings auf eine ironische Weise.

Die Besucher werden in Gruppen von türkischstämmigen Kölnern wie Mehmet Karapinar, Polizist von der Inspektion 5 in Mülheim, durch die Keupstraße geführt. Man erfährt viel über die Geschichte und soziale Topographie der Straße. Karapinar grüßt hier, plaudert dort – es ist in doppeltem Sinn „sein Revier“, durch das er Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft wie beim Sightseeing führt. Eine Einübung ins Fremdsein und Sich-fremd-Fühlen zugleich. Die Rückkehr auf vertrautes Terrain, also in Hochkulturbunker des Schauspiels, fällt allerdings drastisch aus.

Man sieht Bilder der Überwachungskameras mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in der Keupstraße. Auf zwei fahrbaren quadratischen Inseln sitzen sich drei deutsche Schauspieler und drei türkischstämmige Anwohner der Keupstraße gegenüber (Bühne: Anna Ehrlich). Langes Schweigen, distanzierte Blicke. Was folgt, ist eine Einübung in alltäglichen Rassismus. Annika Schilling, Simon Kirch und Thomas Müller in elegantem Outfit sinnieren mit unglaublicher Blasiertheit über die Verschiedenheit der Bewohner der Keupstraße oder die Mitwirkung von Laien in Theaterstücken. Wenn sie über Nageleinschläge in der Wand des Frisörladens als Wunden reden, klingt das wie Kunstgebrabbel in einer Günther-Uecker-Ausstellung. Empathie auf dem Minuslevel. Calis spielt virtuos auf den Tasten des theatralen Repräsentationsmodus. Er formuliert aus, was wir alle nur zu denken wagen (Wieso fährt der so einen dicken Mercedes?). Dagegen setzt der Abend die Enttäuschung, die die Verdächtigungen der Ermittlungsbehörden nach 2004 ausgelöst haben: Drogenmafia, organisierte Kriminalität, Schutzgeld, Geldwäsche, alles wurde den Keupstraßenbewohnern unterstellt – nur einen rechtsradikalen Hintergrund des Attentats hat man schnell ausgeschlossen.

Ayfer Sentürk Demir erzählt von ihrem vierstündigen Verhör durch die Polizei, Kutlu Yurtseven von Hausdurchsuchungen und Finanzprüfungen. Angst und Wut haben sich damals in der Keupstraße breitgemacht. Der Abend wird zunächst zur ethnografischen Suchbewegung, hervorgerufen durch Fragen des Schauspielertrios. Es gibt „Keupgesetze“, nach denen Ayfer Sentürk Demir nicht in Teestuben gehen darf. Teppichhändler Ismet Büyük trinkt keinen Alkohol, das würden seine Kunden ihm nicht nachsehen. „Das ist unser Gesetz“, sagt er lapidar, und daran prallen auch das Emanzipations- und Freiheitspathos der Schauspieler ab.

Immer wieder drehen sich die Inseln, werden Videos eingeblendet mit Statements von Meral Şahin von der IG Keupstraße oder dem Mülheimer Bezirksbürgermeister Norbert Fuchs. Natürlich hat der Abend auch seine Kitschecken. Die Beschreibung der Keupstraße als paradiesisches Sozialbiotop kommt zu häufig vor, Ayfer Sentürk Demirs Erzählung von ihrem Bruder und seiner deutschen Frau ist Völkerverständigungskitsch, auch wenn sie wahr sein sollte. Allmählich tritt der NSU-Komplex stärker in den Vordergrund, die Ermittlungspannen, die Rolle des Verfassungsschutzes, die 2011 geschredderten Akten. Als Menetekel steht ein Fahrrad, wie es Uwe Mundlos fuhr, auf der Bühne.

Das Vertrauen der drei türkischstämmigen Laien in die deutsche Justiz ist mehr als ramponiert, Gerechtigkeit erwarten sie nicht, und die deutschen Schauspieler steigern sich in eine verschwörungstheoretische Emphase hinein, stellen in wilder Wut den Anschlag nach. Die Idee eines tiefen Staates dämmert herauf, der die Anschläge gesteuert hat. Man denkt an den türkischen Ergenekon-Prozess und ist entsetzt über dieses Misstrauen in das deutsche Rechtssystem, auf beiden Seiten. Am Ende bleibt Ayfer Sentürk Demirs Frage „Was passiert jetzt?“ unbeantwortet.

„Die Lücke“ | R: Nuran David Calis | Fr 4.7. 19 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 284 00

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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