Nachtschicht für die Strickmaschine: Ob Hängerchen oder Rock, ob Anzug oder Hemd, ob Bikini oder Badehose, alles ist aus grobgestrickter Wolle (Kostüme: Jana Findeklee und Joki Tewes). Norwegen kann sehr kalt sein und der Mensch ist bekanntlich sowieso nur eine kleine Masche in Gottes world wide pullover. Peer Gynt wird an diesem Abend außerdem durch jede Masche schlüpfen: mit Lügen, mit Dreistigkeit, mit Selbstüberhebung – und am Ende doch nicht wissen, wer er ist. Im babyblauen Anzug und mit Vokuhilafrisur schwadroniert Jörg Ratjen als Henrik Ibsens Titelheld schon vor sich hin, während seine Mutter Aase (Marek Harloff) ihn erst noch zu Welt bringt. Er gibt zunächst den naiven Halbstarken, wenn er enttäuscht von der mädchenhaften Solveig (Peter Miklusz) zurückgewiesen wird und die Braut einer Hochzeit entführt. Eine Art kleinbürgerlicher Jung-Siegfried mit furchtlosem Welteroberungsdrang, der sich alles zutraut.
Intendant Stefan Bachmann verlegt im Depot 1 des Schauspiels die weltumspannende und verzweifelte Selbsterkundung dieses „nordischen Faust“ zunächst in eine Welt der derben Drastik und des Grotesk-Ironischen, was vor allem durch die Strick-Kostüme sowie die Besetzung aller Rollen mit männlichen Schauspielern beglaubigt wird. Die Trolle tragen Strickhöschen mit Riesenphallus, die Trolltochter ist eine grüne Bikini-Barbie mit eingehäkelter Vulva. Vom Sex à tergo bis zur Koprophilie wird nichts ausgelassen. Aber die derbe Drastik ist – wie zuletzt häufig bei Stefan Bachmann – eingerahmt in eine ästhetisch strenge Form. Olaf Altmanns Raum reduziert sich auf einen sich drehenden abgeschrägten Zylinder, der rechts und links von durchlässigen Wänden flankiert wird. Peer Gynts Weltreise, die ihn zum Sklavenhändler, Plantagenbesitzer, Propheten, Kaiser in einem Irrenhaus macht, kommt ohne die große Verwandlungsmaschinerie der Bühne aus. Sie setzt eher – die Bühne dreht sich schließlich ständig um sich selbst – auf die Ausdifferenzierung des Subjekts. Ich ist vier andere: Kaum hat Peer Gynt Marokko als Sklavenhändler erreicht, verfünffacht er sich – Identität als kapitalistische Selbstvermehrung. Die Verwandlungsfähigkeit der acht Schauspieler, die in annähernd 30 Rollen schlüpfen, ist allerdings auch selbst Anverwandlung von Identität und wirft immer wieder neue Fragen nach der Subjektivität auf. Wie das mit heutigen Theorien zur Identität kurzzuschließen wäre, bleibt allerdings fraglich.
Allmählich verliert sich die derbe Drastik der Inszenierung zugunsten einer romantischen Dämonie und Absurdität. In Kairo begegnet Peer dem wienernden durchgeknallten Irren-Arzt Begriffenfeldt, trifft auf seine ungedachten Gedanken und ungeweinten Tränen, die ihn wie Cowboys bedrohen. Er handelt dem mephistophelischen Knopfgießer (Max Mayer) letzte Lebenszeit ab. Stefan Bachmanns Inszenierung ist handwerklich hochvirtuos, brillant in der Beherrschung ihrer Mittel, aber sie berührt nicht. Ausnahmen bilden die Sterbeszene der Mutter Aase, die ihrem Sohn schließlich doch noch einen Moment der Zuwendung abverlangt; oder die berühmte Zwiebel-Szene, bei der Peer vergeblich nach dem Kern des Ichs forscht. Doch Jörg Ratjen hält sich ansonsten den Zuschauer vom Leib, zeigt ihm eine Figur, die ihre Ichs wie Kostüme überstülpt, ohne sie emotional auszufüllen. Mag sein, dass dies konzeptionell gewollt ist. Es dürfte seinen Grund haben, dass der Abend von Beginn bis Ende mit Musik gestützt wird, von Sven Kaisers elegisch-melancholischem Elektrosounds und Gitarrenriffs bis zu Edward Grieg, Beatles oder Johnny Cash. Sie schaffen erst die atmosphärische Basis, aber auch den Gefühlshorizont, vor dem sich das Geschehen entfalten kann. Und ähnlich wie Peer Gynt ergebnislos nach dem Innersten forscht, so steht auch der Zuschauer am Ende ratlos da, worauf die Inszenierung zielt, was ihr aktuelles Movens sein könnte. Identität? Solipsismus? Kapitalismus? Globalisierung? Hochvirtuos, wie gesagt, aber: Norwegen kann sehr kalt sein.
„Peer Gynt“ | R: Stefan Bachmann | Sa 28.10., Sa 18.11. je 19.30 Uhr, So 5.11. 18 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 284 00
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