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Beate Heine
Foto: Andreas Brüggmann

„Tiefenbohrungen in unsere Zivilisationsgeschichte“

29. November 2018

Dramaturgin Beate Heine über Elfriede Jelineks „Schnee Weiß“ – Premiere 12/18

Wettkampf, Fairness, Siege und Kollegialität – man kann sich im Sport vor Anständigkeit kaum retten. Vor einem Jahr hat die frühere Abfahrtsläuferin Nicola Werdenigg allerdings die Abgründe des österreichischen Skileistungssports enthüllt. Demnach waren Voyeurismus, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung in den 1970er Jahren an der Tagesordnung. Opfer: die Sportler, Täter: Funktionäre und Trainer. Die österreichische Autorin Elfriede Jelinek nimmt den Skandal der Alpenrepublik zum Anlass für ihr neues Stück „Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier)“, das Stefan Bachmann am Schauspiel Köln zur Uraufführung bringt. Eine hundertseitige Textlawine, die die verlogene Moral, heilige Kühe wie den Skisport oder den Tourismus mit Wortkaskaden zertrümmert. Ein Gespräch mit der Kölner Chefdramaturgin Beate Heine.

choices: Frau Heine, wie lesen Sie ganz praktisch ein Stück von Jelinek, wenn Sie die Uraufführung dramaturgisch betreuen? 
Beate Heine: Ich beginne zu lesen, mache mir Notizen und streiche an. Dabei notiere ich, was mir an Schlüsselbegriffen auffällt, welche Motive aus früheren Stücken wieder auftauchen oder auf welche Fremdtexte Elfriede Jelinek sich bezieht. Bei „Schnee Weiß“ sind das u.a. Friedrich Nietzsche, Oskar Panizzas Satire „Das Liebeskonzil“, Sigmund Freud und Dramen der griechischen Antike. Ich versuche so die Zusammenhänge zwischen dem Stück und diesen Werken zu entschlüsseln.

Denken Sie da bereits an die Inszenierung von Regisseur Stefan Bachmann?
Das mache ich erst im zweiten Schritt. Zunächst erarbeite ich das für mich. Der Regisseur überlegt sich, welche Bilder das in ihm auslöst und wie er das für die Bühne übersetzt. Ich versuche eher, den Überbau und die Metaebene zu begreifen. Ich muss eine Haltung und Position dem Text gegenüber entwickeln und ich möchte wissen, was die Autorin damit erzählen will und was ich erzählen will. „Schnee Weiß“ endet beispielsweise überraschend mit der Beschreibung der historisch verbürgten, mörderischen Umarmung des Halbbruders vom nordkoreanischen Präsidenten  durch zwei Frauen am Flughafen von Kuala Lumpur. Letztlich ist das eine banale,  wenn auch tragische Geschichte, die Jelinek mythologisch auflädt, indem sie einen Zusammenhang zum Mord an Pentheus durch die Mänaden in dem antiken Stück „Die Bakchen“ von Euripides herstellt. Elfriede Jelinek entwickelt eine Vielzahl thematischer Stränge, die sich überlagern und überkreuzen – das muss ich als Dramaturgin erst einmal entschlüsseln.

Beate Heine
Foto: Andreas Brüggmann
Zur Person
Beate Heine war nach ihrem Studium zunächst als Journalistin tätig. Danach arbeitete sie als Dramaturgin an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, an der Schaubühne am Lehniner Platz, am Schauspiel Hannover und war schließlich Chefdramaturgin am Staatsschauspiel Dresden. Seit der Spielzeit 2017/18 ist sie Chefdramaturgin am Schauspiel Köln.

Anlass für das Stück waren Interviews von früheren Skiläuferinnen, die von sexuellen Übergriffen im Skileistungssport der 1970er Jahre in Österreich berichten. Wie geht Jelinek mit diesem Material um?
2017 hat die frühere Abfahrtsläuferin Nicola Werdenigg enthüllt, dass viele junge Frauen und Männer in den 1970er Jahren von Trainern und Funktionären in Skiinternaten, Trainingslagern und auf Wettkämpfen missbraucht worden sind. In „Schnee Weiß“ wird das u.a. in dem Motiv der Hotelzimmer und unheimlichen Korridore immer wieder aufgenommen. Mit der Enthüllung von Nicola Werdenigg wird der Skisport als heilige Kuh Österreichs angegriffen, der seit den 1950er Jahren für das nationale Selbstbewusstsein eine zentrale Rolle spielte. Das Motiv der Kühe taucht darüber hinaus immer wieder auf: ganz wörtlich im religiösen Sinn die Kühe, die gejagt und geopfert werden, aber auch die Freizeitsportler der Tourismusbranche, die die Natur verwüsten. Verkörpert wurde damals das alpine Selbstbewusstsein vor allem in Toni Sailer, der Ikone des österreichischen Sports, der in Jelineks Stück wiederum als „Sohn des Landes“ bezeichnet und vom Sockel gestoßen wird.

Worin liegt der Bezug zu Oskar Panizzas „Das Liebeskonzil“, einer Satire über Gott, den Teufel und die Syphilis?
Es geht Jelinek um eine Kritik am Katholizismus und da gibt es sicherlich auch einen Link nach Köln. In Österreich gelten der Katholizismus und der Skisport als heilige Kühe. Panizza wurde 1895 wegen Blasphemie verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Seine Satire zeichnet Gott als senilen, lächerlichen, alten Mann. Jelinek benutzt das Panizza-Stück als Folie, um zu zeigen, wodurch wir geprägt sind. Es geht um die Rolle der Religion in der Gesellschaft, um das Vaterbild, um ihren eigenen Vater, um Gottvater und um deren verblasste Autorität.

Mit diesen Informationen füttern Sie dann den Regisseur Stefan Bachmann?
Stefan Bachmann und ich tauchen sehr tief in dieses Stück ein, lesen es zusammen und sprechen darüber. Wir weisen uns gegenseitig auf Material hin. Das dauert schon einige Tage. Bei Jelinek geht es auch um unterschiedliche Perspektiven. Ein Mann versteht Dinge anders als eine Frau, darüber sprechen wir auch. Schließlich diskutieren wir über die Fassung, ob man das Stück komplett spielen kann, was fünf Stunden dauern würde. Wir haben uns größtenteils für eine leitmotivisch strukturierte Strichfassung entschieden, das garantiert einen dichten Abend.

Manche Textpassagen im Stück sind auf Figuren aufgeteilt, manche nicht. Wie gehen Sie damit um?
Der Probenprozess ist ein völlig anderer als beispielsweise bei einem Stück von Tschechow. Wir haben drei Schauspielerinnen und drei Schauspieler und entscheiden erst auf den Proben, wer welche Passagen spricht. Darüber hinaus kann es sicherlich auch einige chorische Textstellen geben, was sich anbietet, da Elfriede Jelinek sehr musikaffin ist und ihre Texte häufig einem Libretto ähneln. Zum Regieteam gehört auch der Musiker Matti Gajek, der schon die Musik für „Tyll“ komponiert hat.

Ist Jelineks Bestandsaufnahme letztlich nicht ziemlich resignativ? 
Nein. Elfriede Jelinek stellt die Frage, wie wir es mit der Moral halten. Also wie fragil der Mantel unserer Zivilisation ist und wie es zu solchen Übergriffen kommen konnte. Sie fragt nach Opfern und Tätern und der Schuld. Wie kann man Gerechtigkeit erfahren für Ereignisse, die Jahrzehnte zurückliegen. Es sind Tiefenbohrungen in unsere Zivilisationsgeschichte. Doch Elfriede Jelinek stellt auch die Frage, wie wir in Zukunft weiterleben, mit welchem Menschenbild. Es gibt keine Conclusio. Es ist ein offenes Ende. Und: Es hat viel Humor und Witz, es blitzt immer noch eine Hoffnung auf.

„Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier)“ | R: Stefan Bachmann | 21.(UA), 22.12., 12., 13., 24.1. 20 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221-28400

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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