Eugen Onegin, das ist kein romantischer Opernheld des 19. Jahrhunderts, sondern ein resignierter Dandy, der alle Genüsse des dekadenten Großstadtlebens ausgekostet hat. Gleichgültigkeit, Langeweile und ein zynischer Blick auf das Leben prägen sein Verhalten, sein brillanter Intellekt hilft ihm, das Leiden an innerer Leere und Gefühlsarmut zu überspielen. Er ist ein Rastloser, auf der Flucht vor sich selbst, der verantwortungslos sich selbst und anderen gegenüber handelt und die Liebes- und Lebensträume vertrauter Menschen zerstört. Erst am Ende kann er zu seinen Gefühlen stehen, doch zu spät, sein Lebensglück ist endgültig verloren. In seiner Zerrissenheit und Bindungsunfähigkeit ist Eugen Onegin auch heute, mehr als 130 Jahre nach der Uraufführung 1879 in Moskau, ein moderner Charakter.
Tschaikowsky sah in der Hauptfigur seine eigene zerrissene Persönlichkeit gespiegelt und entblößt in der musikalischen Charakterzeichnung Onegins seine eigenen seelischen Nöte und Ängste. Auch er inszenierte sich in seiner Jugend als Dandy und reiste quer durch Europa, nirgendwo hielt es ihn. An das lebenslange Trauma des Komponisten erinnert die weibliche Hauptfigur der Oper. Genau wie Tatjana in ihrem großen Briefmonolog im ersten Akt Onegin ihre bedingungslose Liebe gesteht, hatte es Antonia Miljukowa ihrem Lehrer Tschaikowsky gegenüber getan, nur mit dem Unterschied, dass der Komponist auf das Werben seiner Schülerin einging und sie heiratete. Die Ehe wurde ein Debakel und bald geschieden – der Komponist konnte seine Homosexualität nicht länger negieren.
Tschaikowsky komponierte, basierend auf Puschkins gleichnamigem Versroman aus dem Jahre 1833, lose miteinander verknüpfte Szenen, deren Handlung in großen Zeitsprüngen über zwei Jahrzehnte voran schreitet. Aus heutiger Sicht wirkt diese Folge von Einstellungen, Schnitten und Blenden filmisch. Das Orchester stellt innere Zusammenhänge zwischen weit auseinanderliegenden Ereignissen her: Musikalische Erinnerungsmotive durchziehen das ganze Werk. Die psychologische Charakterzeichnung der Hauptfiguren steht im Mittelpunkt, das gesellschaftliche Milieu hingegen wird nur kurz umrissen. „Ich wünsche nichts, was Bestandteil der großen Oper ist. Ich halte Ausschau nach einem intimen, aber kraftvollen Drama, das aufgebaut ist auf einem Konflikt von Umständen, den ich selbst erfahren und gesehen habe …“, sagt der Komponist über sein Werk und verlangte, in seinem Theaterverständnis Tschechow sehr nahestehend, für die Uraufführung eine kleine Bühne und bescheidene Mittel.
Jeder der drei Akte schildert eine menschliche Tragödie, in der jeweils eine andere Person und deren tragische Aspekte im Mittelpunkt stehen: Zunächst ist es das Scheitern Tatjanas erster großer Liebe, darauf die Enttäuschung und der Tod des Dichters Lensky im Duell mit seinem Freund Onegin und am Ende Onegins Erkenntnis der Sinnlosigkeit seiner Existenz, nachdem ihn Tatjana, inzwischen mit dem Fürsten Gremin verheiratet, zurückweisen musste. Die gegenläufige innere Entwicklung Tatjanas und Onegins macht ein Zusammenkommen beider unmöglich: Der Wandlung Onegins vom Welt verachtenden Dandy zum hilfsbedürftigen Menschen steht die Entwicklung Tatjanas vom unerfahrenen Mädchen zur reifen, abgeklärten Frau gegenüber. Ein Zusammenkommen beider ist nicht mehr möglich, ihre Liebe muss unerfüllt bleiben.
„Eugen Onegin“ I 25.2. (P)/2./4./10./15./17./21./25.3. I Aalto Theater Essen I www.aalto-musiktheater.de
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