Wir befinden uns im Kellergewölbe des Kunsthaus KAT 18. Im rosa ausgekleideten Bühnenraum stehen Tische und Stühle bereit. Noch während das Publikum nach seinen Plätzen sucht, betritt die erste Spielerin die Bühne. Seelenruhig beginnt sie den eigentlich sauberen Boden mit einem Staubsauger zu säubern. In beige und braun-gold gekleidet, steht sie im Kontrast zu ihrer Umgebung, aber im Einklang mit ihren MitspielerInnen. Nach kurzer Zeit geht sie wieder ab und die nächste betritt die Bühne. Sie wischt die Tische ab. So betreten nach und nach alle 10 SpielerInnen einzeln die Bühne und richten den Raum für das kommende Geschehen her.
Sobald sich der Raum gefüllt hat, weisen zwei Spielerinnen als Stewardessen darauf hin, was im Falle eines Notfalls zu tun wäre. Dabei wird sogar der Ordner an der Tür theatralisch eingebunden und es hängen Plastikwürste von der Decke. (Wer sich darunter nichts vorstellen kann, muss es erleben!) Nachdem die Formalia erledigt sind, wird die Tür zum Zuschauerraum geschlossen. Schon jetzt fällt auf: Dieses Stück verläuft nicht ganz so, wie man es von einem Theaterabend erwarten würde.
Vielmehr hat „Kontrolle“ es sich zur Aufgabe gemacht, sich einer gängigen Aufführungsmanier zu widersetzten. Getrieben von einer äußeren Stimme, sind die Aktionen der Akteure zu Beginn des Stücks noch scheinbar kontrolliert. So stecken sie zunächst immer und immer wieder Plastiksektgläser aufeinander. In einer späteren Szene sitzen sie eine gefühlte Minute lang regungslos an einem langen Tisch. Als Zuschauer ertappt man sich bei dem Gedanken: Müsste jetzt nicht eigentlich etwas passieren? Hat vielleicht jemand vergessen, was als nächstes zu tun ist? Und gerade als man wirklich unruhig wird, spricht Ensemblemitglied Katharina Sim genau diesen Gedanken aus: „Die Pause ist zu lang!“
Doch damit ist für sie noch nicht Schluss, denn weiter heißt es: „Der Takt verschiebt sich!“ und genau das ist es, was das Stück vermitteln will. Es kommt immer auf den Standpunkt an, von dem man etwas oder jemanden betrachtet. Manchmal sollte man einfach aufhören, alles kontrollieren zu wollen oder sich blind einer Kontrolle von außen zu unterwerfen. Einfach mal den Takt verschieben!
Irgendwann haben auch die ersten Akteure begriffen, dass sie nicht ausgeliefert sind. Einige gehorchen den Befehlen der äußeren Stimme nicht länger und schaffen es, sich ihr zu widersetzen. Andere wiederum zeigen keinerlei Veränderung in ihrem Verhalten und führen die Befehle weiter aus. Genau dieses individuelle Spiel der Akteure macht den Reiz des Stücks aus. So entwickelt sich an jedem Abend immer wieder etwas Neues. Auch das Ende kommt dann sehr überraschend. Es ist irgendwie anders als „normalerweise“. Aber was heißt das schon?
Auch Regisseurin Gwendolin Lamping lässt sich bei jeder Performance überraschen. Die studierte Theaterpädagogin hat bereits mit mehreren mixed-abled Ensembles gearbeitet. Dabei ist es ihr besonders wichtig, die Fähigkeiten und Bedürfnisse jedes einzelnen Ensemblemitglieds in das Spiel zu integrieren. Diese Aufgabe haben sie und ihr Team mit „Kontrolle“ bravourös gemeistert. Dabei war das Projekt zu Beginn der Probenzeit noch nicht wirklich durchgeplant. Alles hat sich in Zusammenarbeit mit Künstlern und Team ergeben. Nach einem Casting, bei dem 10 SpielerInnen ausgewählt wurden, begann ein Work-in-Progress-Prozess, der sich rund um das Festivalthema „Rausch“ entwickelte. Immer wieder gab es Impulse von Dramaturgin Gabi Reinhardt, die die Ergebnisse der Probenarbeit schließlich in Texte fasste. Einige davon sind im Stück zu hören, andere findet man im begleitenden Programmheft. „Wenn man die einzelnen SpielerInnen gut kennt, erkennt man sie in den Textpassagen wieder“, sagt Lamping.
Eine Besonderheit des Stückes ist das Angebot einer intensiven Rezeption für seh- und hörgeschädigte Zuschauer. Simultan zum Geschehen auf der Bühne gibt es eine Audiodeskription, die per Kopfhörer angehört werden kann. Eine Gebärdendolmetscherin ist selbst als Teil des Ensembles auf der Bühne. „Kontrolle“ ist die dritte Produktion, die mit der 2014 gegründeten, offenen Gruppe »projek zukumpf« entstanden ist.
„Kontrolle – Ich habe Weinen getränt“ | R: Gwendolin Lamping | 9.5., 12.-14.5. 20 Uhr | 19 Uhr: Einführung für sehbehinderte und blinde Menschen | Kunsthaus KAT 18, Kartäuserwall 18 | 0221 598 26 60
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