Verschiedentlich äußern in Klassik unerfahrene Geister Zweifel an der Sinnhaftigkeit, auch noch die einhundertste Einspielung von z.B. Vivaldis „Jahreszeiten“ vorzunehmen. Die Partituren sollten doch eigentlich genügend Information enthalten, um einen konkreten Fahrplan für eine bestimmte Musik zu entwerfen. Das trifft in ganz besonderem Maße nicht für die Alte Musik zu, denn mit jeder Erkenntnis und neuen Quelle wird der Teich trüber, in dem Musikwissenschaftler und immer häufiger die Interpreten selbst fischen. Es hat sich in unseren Tagen die gängige Idealkombination von forschenden Dirigenten ausgebildet, besonders in historischen und dabei sehr interessanten aufführungspraktischen Fragen.
Jetzt gastiert mit Marc Minkowski ein solch belesener Musikus in Essens Philharmonie und präsentiert seine Version der ebenfalls tausendfach aufgeführten „Matthäus-Passion“, Paradestück in österlicher Zeit und beinahe das Osterei des Karfreitags. Johann Sebastian Bachs zeitgreifende Passion blieb in Bachs Leipziger Tagen von zeitgenössischen Musikkonsumenten völlig unkommentiert: Carte blanche für Minkowskis weitgehend französisches Musikanten-Team.
Der polnischstämmige französische Dirigent, der seine Passion für die Alte Musik auch aus dem Studium des Barockfagotts entwickelte, gründete 1982 sein Spezial-Ensemble Les Musiciens du Louvre, mit dem er zunächst auf die Suche nach unbekannten Werken ging. Bald traten Opern in sein Blickfeld, 2010 debütierte Minkowski mit seinem Orchester an der Wiener Staatsoper mit Händels „Alcina“ – kein Repertoire-Stück in diesem Wiener Prachtbau. Und Opernerfahrung prädestinierte ihn im Jahre 2016, die Leitung der Opéra national de Bordeaux zu übernehmen. Im selben Jahr etablierte er sich in Wien mit einer weiteren Inszenierung.
Marc Minkowski setzt jetzt in Essen – nach fünf Aufführungen in spanischen Kulturzentren – besonders in Besetzungsfragen auf extreme Position. Wurde das Werk unter der Bach-Ikone Richter noch mit zwei großbesetzten Chören und zweigeteiltem breiten Orchestersound aufgeführt, so treten am Karfreitag ein Dutzend solistischer Sänger auf, die zwei getrennt voneinander musizierende Chöre und alle Solo-Partien der Passion tragen. Das klingt zunächst passend, weil sehr gemütlich, zum Reihennamen „Alte Musik bei Kerzenschein“. Aber der Theatermann Minkowski wird die Kerzen zum Flackern bringen: Bachs Matthäus-Passion hält einiges an Dramatik bereit. Und ein Erdbeben erschüttert ebenfalls die Hörer.
Der Abend bietet Gelegenheit, auf sehr hohem Niveau ein akustisches Experiment zu erleben, eine Zeitreise in eine mögliche Klangwelt Bachs, die allerdings 1727 im hallenden Raum seiner Thomaskirche tüchtigen akustischen Beistand erhielt. Umso spannender also, wie der moderne große Raum des ehemaligen Saalbaus die zarten Stimmen umschmeicheln kann.
Bach: Matthäuspassion | Les Musiciens du Louvre Grenoble, Marc Minkowski | Fr 30.3. 20 Uhr | Philharmonie Essen | www.theater-essen.de
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