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Christian Kohlross
Foto: privat

„Ohne Utopien können wir nicht leben“

29. November 2018

Psychotherapeut Christian Kohlross über Bürokratie und die Psyche der Gesellschaft

choices: Herr Kohlross, es gibt die These, dass wir „von Psychopathen regiert“ werden, weil unsere Gesellschaften skrupelloses Verhalten mit Aufstieg belohnen. Was halten sie davon?
Christian Kohlross: Erstmal denke ich, das ist richtig so. Wenn wir uns Putin anschauen, Trump, Orban, die polnische Regierung und andere, dann stellen diese ein bedrohliches Szenario dar – vor allem, weil sie alle demokratisch gewählt sind, wir haben es gerade erst in Brasilien wieder gesehen. Das ist eine Entwicklung, die das Fürchten lehren kann, die aber auch ganz viele Gründe hat. Zum Beispiel ist die Politik heute so strukturell und formalisiert, dass viele gar nicht mehr verstehen, was vor sich geht. Dann kommen die großen Erklärer, die sagen, rechts, links, schwarz, weiß, gut, böse. Das sind Menschen, die eine ganz klare Entschiedenheit haben: Sie wissen, wofür sie sind und wogegen. Und wenn man nur eine Seite sieht, wird die Welt wieder einfacher.

Sie diagnostizieren in ihrem Buch „kollektiv neurotisch“ eine Neurose der westlichen Gesellschaft. Was bedeutet das?
Meine Grundthese lautet, dass nicht nur einzelne Personen, sondern auch ganze Gesellschaften neurotisch werden können, dass es nicht nur individuelle, sondern auch kollektive psychologische Mechanismen und Dynamiken gibt. Die Annahme, dass auch Gesellschaften depressiv werden können, ist gar nicht so neu. Depressionen äußern sich durch Orientierungslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Antriebslosigkeit, aber auch durch großen Aktivismus, der letztlich nur dazu dient, bestimmte Dinge von sich weg zu halten – alles Dinge, die man auch bei Gesellschaften beobachten kann.

Welche Rolle spielt hier Macht? 
Macht spielt zunächst mal in allen Gesellschaften eine zentrale Rolle, weil sie darauf angewiesen sind, Entscheidungen durchsetzen zu können, in denen der Wille der Vielen mit dem Willen des Einzelnen abgegolten wird. Mein Wunsch mag es sein, keine Steuern zu zahlen, das führt aber zu einem Zustand, den ich gar nicht wollen kann, denn wenn niemand Steuern zahlen würde, gäbe es  eben auch keine Straßen. Diese Abgeltung von individuellem und kollektivem Willen führt alle Gesellschaften zwangsläufig in einen Konflikt, in dem sich die Frage stellt, wessen Wille sich durchsetzt – der Wille des Einzelnen oder der Vielen. Macht löst diesen Konflikt, hat aber den Nachteil, das sie Frustration auslöst, die zu Aggression führt – und dann ist die Frage, wo geht diese Aggression hin. Dieses Grundproblem nicht angemessen lösen zu können, macht eine Gesellschaft letztlich neurotisch. Sie macht sie etwa depressiv, wenn sich die Aggression nach innen richtet, oder zwanghaft, wenn sie zur Kontrolle von anderen Gruppen eingesetzt wird.

Welche Funktion kommt dabei der Verwaltung von Macht zu, der Bürokratie?
Verwaltung ist tatsächlich ein Versuch des Ausgleichs, zumindest in modernen, demokratischen Verwaltungen. Verwaltungen haben umzusetzen, was Gesetz ist, aber sie bemühen sich, nicht einfach den Wunsch der Vielen gegen den Einzelnen durchzusetzen, sondern in einem Ausgleichsverfahren Wunsch und Wirklichkeit miteinander in Einklang zu bringen. Es wird versucht nach rationalen, transparenten Verfahren Macht durchzusetzen und den Einzelnen dennoch zu berücksichtigen.

Trotzdem ist der Begriff der Bürokratie negativ besetzt
Ja, obwohl die Bürokratisierung weiter zunimmt, gerade auch durch die Digitalisierung. Ich würde sagen, das ist ideengeschichtlich begründet. Es gibt diese Idee von einer Bürokratie, wie Kafka sie in „Der Prozess“ oder „Das Schloss“ beschreibt, von einer undurchsichtigen, nicht nachvollziehbaren, ungerechten und bedrohlichen Maschinerie, die ihre Vorhaben brutal durchsetzt und vor der sich der Einzelne als ohnmächtig erlebt. Das weckt schnell Urängste vor dem Kontrollverlust – da tun äußere Mächte irgendetwas mit einem, nach nicht nachvollziehbaren Kriterien. Diese kafkaesken Bürokratien sind vor allem in diktatorischen Staaten noch zu finden.

Entsprechend gibt es den Wunsch nach „Entbürokratisierung“. Welche Sehnsucht spricht daraus?
Ich denke, die Sehnsucht nach Selbstbestimmung, selbst entscheiden zu können. Das ist menschlich verständlich,  aber da wir alle in größeren Zusammenhängen leben, ist genau das nicht möglich. Wenn sie im Stau stehen, sind sie diesem ausgeliefert, aber provozieren ihn auch gleichzeitig selbst. Die Sehnsucht nach absoluter Selbstbestimmung ist nachvollziehbar, aber wenn alle selbstbestimmt leben, gibt es keinen Zusammenhalt mehr.

Moderne Bürokratie möchte rational handeln. Tut sie das?
In letzter Konsequenz nicht, da müssen wir uns keinen Illusionen hingeben. Schon allein deshalb, weil gar nicht klar ist, was Rationalität eigentlich ist. Ich glaube, dass dabei dem einzelnen Verwalter die Schlüsselposition zukommt. Die haben viel Freiraum, können den Buchstaben des Gesetzes über dessen Sinn stellen und sich auch irrational entscheiden. Letztlich hängt es also alles mit der Urteilskraft des Einzelnen zusammen und das kann natürlich auch schiefgehen, weil  Menschen und ihre Urteilskraft fehlbar sind. Dann kommt so etwas wie das Love Parade-Unglück heraus, da haben sich damals einige gewaltig verschätzt.

Zuständigkeiten verteilen sich innerhalb der Behörden. Was macht das mit dem Personal?
Innerhalb der Bürokratie führt das häufig zu großer Frustration und zwar immer dann, wenn die Mitarbeiter merken, dass sie ein Rad im Getriebe sind, aber keinen Einfluss auf die nächste Entscheidungsebene haben. Das ist eine Frage der Personalführung, die Einzelnen wirklich verstehen zu lassen, was ihre Funktion und Verantwortlichkeit ist. Wo das nicht der Fall ist, fühlen sie sich ausgeschlossen und allein gelassen. Menschen können auf vieles verzichten und Leid ertragen, aber sie können es nicht ertragen, ihr Leben nicht erzählen zu können, ohne Sinn zu leben. Dass man Menschen arbeiten lässt, ohne ihnen den Sinnzusammenhang klar zu machen,  ist mit der immer weiter zunehmenden Arbeitsteilung aufgekommen und hat inzwischen skandalöse Ausmaße angenommen. Wir alle haben gelernt, auf das Einkommen zu achten, aber nicht darauf, zu verstehen, warum wir etwas tun. Dabei ist das vor allem für Menschen in besonders arbeitsteiligen Umgebungen, wie eben Verwaltungen, ganz entscheidend.

Sie beschreiben einen Mangel an Utopien als Grund für gesellschaftliche Neurosen. Wird der Mangel auch durch Bürokratie verursacht?
Vermutlich ist es so. Die Überbürokratisierung hat die Gesellschaft sehr stark formalisiert und dadurch entpersonalisiert, die Verfahren selbst haben überhand genommen. Utopien waren bisher in unserem Verständnis seit dem englischen Humanisten Thomas Morus immer sehr personenzentriert, bis hin zum Personenkult. Deswegen ist es heute Aufgabe Utopien zu entwickeln, die unabhängig von Personen funktionieren. In meinem Buch versuche ich klar zu machen, dass wir ohne Utopien nicht leben können, das kann jeder in seinem eigenen Leben sehen. Wenn sie als Paar etwa keine Vorstellung mehr davon haben, welche gemeinsame Zukunft sie haben, wirkt sich das desaströs auf die Beziehung aus. Man braucht etwas, auf das man hinarbeitet, um jeden Tag aufzustehen. Utopien sind Ausdruck des Prinzips Hoffnung. Das ist eine Aufgabe, die wir alle haben, sich gemeinschaftlich über eine andere Art von Zukunft Gedanken zu machen – darüber, wo wir hinwollen.

Könnte Bürokratie zur ‚Therapie‘ der Gesellschaft beitragen?
Sie könnte durchaus ein Muster, oder ein Modell, für den Ausgleich zwischen dem politischen Willen und dem des Einzelnen liefern, wie er für das Gelingen einer Demokratie nötig ist.


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Interview: Christopher Dröge

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