Der gesellschaftliche Umgang mit bürokratischen Prozessen und Strukturen hat sich unmerklich, aber grundlegend gewandelt. Bei seiner Einführung im 19. Jahrhundert zielte der Begriff der Bürokratie einzig und allein auf das Handeln von mächtigen Staatsbeamten und der Soziologe Max Weber schwärmte von der „formal rationalsten Form der Herrschaftsausübung“. Ihm schwebte das Ideal einer schlanken und effizienten Organisation vor, die in modernen Gesellschaften standardisierte Abläufe für alle garantiert. Doch wenn Ideale praktisch werden, bleiben Degenerierungserscheinungen nicht aus. Wer schonmal ein Straßenverkehrs- oder Zollamt von innen gesehen hat oder in der unglücklichen Position war, Hartz IV zu beantragen, weiß aus Erfahrung wie rational, schlank, effizient und unpersönlich Behörden sein können. Zwar hat der Bürokrat aus historischer Perspektive die einst kriegerische Machtelite, die willkürlich und gewalttätig herrschte, abgelöst. Sie ist aber einem Heer von Beamten gewichen, die Macht nicht mehr mit Schwertern, sondern Stempeln ausüben.
Blühte in den 60er und 70er Jahren im Schlepptau der Studentenrevolte noch linke Bürokratiekritik – Stichwort: strukturelle Gewalt – ist das Gebiet seither von der politischen Rechten okkupiert worden. Allen voran klagen seit 40 Jahren Konzerne über immer weiter ausufernde Bürokratie und führen unter den Schlachtrufen der Entbürokratisierung und Deregulierung ihre Attacken. Und die neoliberale Propaganda einer unheiligen Allianz von Politik und Ökonomie verfängt und ist mehr oder weniger common sense geworden, obwohl längst offensichtlich ist: Wer nach Deregulierung schreit, meint nur wirtschaftsfreundlichere Regeln.
Tatsächlich ist die Bürokratie seit den Tagen von Reagan und Thatcher trotz aller Versprechen und politischer Initiativen nicht etwa geschrumpft, sondern kräftig gewachsen, wie der US-amerikanische Ethnologe und Anarchist David Graeber in seinem Buch „Bürokratie – Die Utopie der Regeln“ darlegt. Gleiches weist er erstaunlicher Weise auch für Russland nach. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Inbegriff eines bürokratischen Staats, wuchs das Heer der Bürokraten rasant an. Selbst Konzerne entdeckten ab Ende der 60er Bürokratie als ein hervorragendes Instrument um Menschen auszubeuten. Die US-amerikanische Bank JPMorgan Chase beispielsweise macht bis zu zwei Drittel ihres Profits mit Gebühren, die meist wegen Regelverletzungen fällig werden.
Und dennoch, insgeheim lieben wir Bürokratie. Wer will schon, dass persönliche, korruptionsanfällige Sozialbeziehungen über Kindergartenplätze, Organtransplantationen oder den Vorstandsvorsitz für die Kölner Stadtwerke entscheiden? Wir wissen aus Erfahrung, dass Privatinteressen mit Hingabe Gesetzes- und Bürokratielücken missbrauchen. „Dem Reiz der Bürokratie“, schreibt Greaber ein wenig überraschend, liege „letztendlich die Angst vor dem Spielen“ zugrunde, Angst vor Willkür und Destruktivität, die jeder ergebnisoffenen Kreativität innewohne. Doch Graeber warnt auch, dass die souveräne Macht das Recht hat, scheinbar verlässliche „Rechtsauffassungen beiseite zu fegen oder sie nach Bedarf neu zu begründen“. Wie man es auch wendet, Bürokratie ist ein verflixtes Ding.
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