Von Köln aus lässt sich gut beobachten, was im Werk von Leiko Ikemura passiert, auch wenn es weltweit ausgestellt wird. Seit 1985 lebt sie hier, und nachdem sie bereits 1982 bei Paul Maenz ausgestellt hat, sind ihre Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Fotografien seit 1987 regelmäßig in der Galerie Greve zu sehen. Leiko Ikemura wurde 1951 in Tsu in der japanischen Präfektur Mi geboren. 1972 ist sie zum Studium nach Spanien und von dort weiter in die Schweiz gezogen, wo sie zunächst mit expressiv figurativen Gemälden und Zeichnungen bekannt wurde. Auch wenn sich ihr Werk seither verändert hat, so sind von Beginn an bis heute bestimmte Sujets und Themen kennzeichnend: das innige Verhältnis von Mensch und Tier und die Wendung der äußeren Realität in die Psyche. Die Landschaft ist greifbar und doch unbegreiflich, der Mensch ist Teil der Natur. Fernöstliche Traditionen finden sich im lasierenden Auftrag der Tempera auf das Leinwandgewebe oder in den entrückten Darstellungen eines einzelnen Mädchens in den Gemälden oder als Skulpturen aus Keramik und Bronze.
Und doch ist in der aktuellen Ausstellung vieles anders. Die neuen Werke beruhen auf der sensiblen Wahrnehmung der Pandemie-Zeit, die Leiko Ikemura in ihrem Atelier in Berlin verbracht hat. Die Hinwendung zu fragilen Zuständen, in denen die Konturen unscharf werden, hat in jüngster Zeit zu gegossenen Glasskulpturen geführt, etwa einem schlafenden Kopf, der das Durchsichtige, Lichte mit der realen Schwerkraft verbindet. In ihrer Malerei aber hat sich Leiko Ikemura so weit wie noch nie in die Abstraktion begeben. Hatte zuvor der – oft tiefliegende – Horizont, besonders in den Querformaten einer entleerten zeitlosen Dunkelheit, eine meditative Stimmung der Landschaft zum Ausdruck gebraucht, so ist die Natur nun aufgewühlt, sie entäußert sich.
In der Ausstellung setzt das 2018 mit kleinformatigen Zeichnungen ein, die in Bad Reichenhall entstanden sind. Die Berge, die früher wie atmende, sich auftürmende Gehäuse wirkten, lösen jetzt ihre Kontur auf, einzelne Farbbewegungen breiten sich wirbelnd aus. In einigen der neuen Gemälde finden sich Hinweise auf Vulkane, als Zitate auf den Fuji im japanischen Holzschnitt. Die Elemente der Natur, ihre ständige Bewegung und ihre Vergänglichkeit gewinnen an Bedeutung, etwa in den „Wasserfällen“. Andere Gemälde werden von Schwarzanteilen überzogen, die in tonalen Abstufungen frühere Malereien verdecken und um so mehr eine Raumtiefe erzeugen. Über aller Unruhe liegt, im Zusammenspiel von Licht und Schatten, die Luft als substanzielle Schicht, die sich zum Spirituellen öffnet. Von einem „ätherischen Hauch“ hat Leiko Ikemura 2001 in einem Interview im Museum Lausanne gesprochen und damit die Verschleierungen und ein Vibrieren der Oberfläche beschrieben. Die aktuelle Ausstellung nun ist (wie eines der Bilder) mit „a.Ï.r.e“ betitelt: als Hinweis auf das „Eintauchen“ in die transparente Stofflichkeit und indirekt als aktueller Bezug zum lebensnotwendigen Atmen und dann noch, in der Verwendung des Spanischen, als Anbindung an die eigene Biographie.
Leiko Ikemura: a.Ï.r.e | bis 29.1. | Galerie Karsten Greve | 257 10 12
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