Natürlich, der Westen hat sich nach dem Ende der Sowjetunion nicht immer elegant verhalten: Westdeutschland hat sich in Teilen wenig subtil die ehemalige DDR einverleibt. Und der Westen hat im Umgang mit Moskau auch mal Augenhöhe missen lassen. Da beömmelt sich ein Bill Clinton vor laufenden Kameras über einen sichtlich beschwipsten Boris Jelzin. Das ist für die einen sympathisch, für andere ein Affront. Es kann natürlich auch einen Affront darstellen, wenn ein russischer Präsident einem US-Präsidenten auf öffentlicher Bühne betrunken begegnet. Ansichtssache. Schwamm drüber.
Kompliziert wird es mit Wladimir Wladimirowitsch Putin, der 1999 die Führung Russlands übernimmt und bis heute faktisch durchregiert. Der ehemalige KGB-Agent ist kein Typ der Kategorie Gorbatschow oder Jelzin. Den Zerfall der Sowjetunion verfolgt er wehleidig. Trotzdem gibt er sich anfangs gemäßigt, spricht den USA 2001 nach dem Terroranschlag Betroffenheit und Verbundenheit aus, findet im Deutschen Bundestag brüderliche Worte. Westliche Politiker indes schlagen Putins Einladung zur Militärparade aus, er selbst ist dem Westen nicht immer auf der großen politischen Bühne willkommen. Während Putin im eigenen Land die Oligarchen um sich scharrt, beömmelt sich Hilary Clinton vor laufenden Kameras über seine innenpolitischen Tricksereien, die ihm auch aus der zweiten Reihe heraus die Führung über den Staat gewähren.
Längst verabscheut Putin offen die Demokratie
Die Sache spitzt sich zu, als ehemalige sowjetische Gebiete zunehmend die Unabhängigkeit anstreben. Dass sie sich anschließend aus ihrem freiheitlichen Selbstverständnis heraus dem Westen annähern, ist für Putin nicht mehr hinnehmbar. Der Westen hingegen findet das gut. Verträge werden gebrochen – auf beiden Seiten. Putin sieht sich in die zweite Reihe versetzt. Putin verhärtet. Schon zu Beginn seiner Amtszeit führt er Krieg gegen Tschetschenien, das sich von Russland lossagt. 2009 besetzt Putin Gebiete Georgiens, 2014 besetzt er die Krim und unterstützt die Besetzung des Donbas durch Separatisten. Seine Anhänger feiern ihn dafür, dass er Russland wieder eint, während die Freiheitsrechte der Russen eingeschränkt und kritische Landsleute mundtot gemacht werden, eingesperrt, vergiftet. Längst verabscheut Putin offen die Demokratie. Wikipedia korrigiert im Laufe seiner Amtszeit die Definition der Regierungsform Russlands von „präsidial-parlamentarische Republik" hin zu „defekte Demokratie mit autokratischen bis despotischen Zügen". Putins Auftreten gestaltet sich zunehmend narzisstisch (Bildersuche: Putin, Pferd). 2015 vollzieht Putin mit Assad einen menschenverachtenden Vernichtungskrieg gegen die syrische Bevölkerung. Putin unterstützt damit einen Diktator und vereitelt demokratische Bestrebungen hin zu einem Machtwechsel. Gleiches vollzieht er in Libyen und zuletzt in Belarus und Kasachstan. Jetzt nun der Paukenschlag, der auch die letzten weckt: Putins Einmarsch in die Ukraine.
Und eben jetzt, wo Putin endgültig durchdreht, kommen auch hierzulande wieder die empathischen Argumente auf den Tisch. Klar, der Einmarsch Putins gehört verurteilt, sagen sie – aber, aber, aber: „Letztendlich ist die Invasion der Ukraine das traurige Ergebnis einer fehlgeleiteten Eskalationspolitik des Westens", schreibt zum Beispiel Jens Berger, einer der nachdenkt auf den sogenannten NachDenkSeiten. Und weiter: „Dass ein in die Ecke getriebener, geprügelter Hund beißt, ist tragisch, aber in gewisser Weise auch vorhersehbar." Mit anderen Worten: Putin kann ja nichts dafür, weil er kann nicht anders: Putin ist Opfer, nicht Täter. Putin reagiert bloß. Mit einem Völkerrechtsverstoß.
Die Menschen im Westen sollten es besser wissen
Für Putin selbst sind derlei Affronts durch den Westen nur ein verschwurbelter Kriegsgrund von vielen, die er drei Tage vor seiner Invasion in seiner Drohrede raushaut. Die Ukraine als Russlands historische Schöpfung, die atomare Bewaffnung der Ukraine, der Genozid etc. – ein wirrer Komplott-Kompott, der nur noch die Menschen erreicht, die das hören wollen und/oder es wegen staatlicher Zensur nicht besser wissen: große Teile der russischen Bevölkerung. Scheinbar geht es Putin in seiner Kommunikation fortan nur noch ums eines: sich den Rückhalt seiner Nation zu bewahren. Zur Not sogar ohne Gewalt: an der Seite von entwaffnend lächelnden Flugbegleiterinnen.
Die Menschen im Westen sollten es besser wissen, einige beten aber umso hartnäckiger ihr Opfermantra, lamentieren, Putin hätte uns schon 2001 im Bundestag die Hand gereicht. Ja, Putin hat sich damals geöffnet – mit der Erwartung, dass Europa sich für Russland öffnet und dafür von den USA abrückt. Für ein „einheitliches Großeuropa". Putin hat noch weitere salbende Worte benutzt wie „internationale Sicherheitsarchitektur" oder „Vertrauensklima". Spätestens heute wissen wir: Putin ist vermutlich auch für die Rettung des Weltklimas, für Pressefreiheit, Weltfrieden, freilaufende Hühner, für Friede, Freude, Eierkuchen – solange das alles innerhalb von Putins Weltordnung geschieht. Also: First things first – Einmarsch!
Nein, westliche diplomatische Patzer sind nicht schuld an Putins Völkerrechtsverstoß. Putin allein trägt dafür die Verantwortung. Rückblickend scheint es beinahe egal, wie sich der Westen gegenüber Putin verhalten hätte: Die größte Kränkung, die ihm widerfahren ist, liegt dreißig Jahre zurück: die Hinterlassenschaft seines russischen Bruders Gorbatschow. Putin will die Sowjetunion zurück. Sein großrussisches Reich. Putin, der KGB-Agent aus dem Kalten Krieg, steckt längst in der Vision seiner faschistoiden Weltordnung fest. Und da holt ihn vermutlich kein Mensch mehr heraus.
HARTMUT ERNST
Hier geht's zum Bericht zur Kundgebung „Peace Please“ auf dem Kölner Heumarkt
Lesen Sie auch unseren Bericht zur Kölner Friedensdemo am Rosenmontag
Lesen Sie hier, was die Teilnehmer:innen der Rosenmontagsdemo denken
Hier kann für die Menschen in und aus der Ukraine und unabhängigen
Journalismus gespendet werden:
Blau-Gelbes Kreuz
Deutsch-Ukrainischer Verein e.V.
https://www.bgk-verein.de/
Bündnis Entwicklung Hilft
https://entwicklung-hilft.de/
Partnerschaftsverein Hürth e. V.
Humanitäre Hilfe für die ukrainische Partnerstadt Peremyschljany
https://www.pv-huerth.de/?p=868
Reporter ohne Grenzen
Für Pressefreiheit weltweit
https://www.reporter-ohne-grenzen.de/spenden
ZEITENWENDE
Am 24.02.2022 überfällt Russland die Ukraine
Für welche Rolle entscheidet sich Deutschland auf dem Weg zum Frieden?
Schreiben über Europa, über Krieg und Frieden
und über Demokratie und Versöhnung – Lesen Sie dazu auch:
EUROPA GESTALTEN / Welches Land macht es am Besten?
DEUTSCHLAND OHNE GRÖSSENWAHN / Friedensstifter
WORT ODER WAFFE / Die Wahl zwischen Krieg und Frieden
DEMOKRATIE / Dein Wille geschehe
EUROPA / Friedliche Vielfalt der Kulturen
VERSÖHNUNG / Schuld und Sühne
Das Njet aus der Komfortzone
Russisch-ukrainische Konflikte im deutschen Theater – Theater in NRW 04/22
Eine klare Botschaft
Friedenskundgebung „Peace Please“ auf dem Kölner Heumarkt – Spezial 04/22
Support durch Bierdeckel
Aktion für Krankenhauspersonal – Spezial 06/22
Testballon 9-Euro-Ticket
Überblick und erste Bilanz – Spezial 06/22
Schluss mit Monopoly
raum13 will urbane Zukunft gestalten – Spezial 05/22
„Es sind alle herzlich willkommen“
Vereinsgründerin Emitis Pohl über das Café Selenskyj – Interview 05/22
Kein Platz für „Herrenmenschen“
Initiative von Bündnis 90/Die Grünen – Spezial 05/22
„Betroffenen einen Raum geben“
Jeanette Berger über die Beratungsstelle Leuchtzeichen – Spezial 05/22
„Das Fahrrad ist der Schlüssel“
Ute Symanski über Radkomm und den Talk mit Katja Diehl – Interview 03/22
„Der Mensch kann lernen“
Michel Friedman über Streitkultur – Interview 03/22
„Nicht nur zum Feiern zusammenstehen“
Stimmen von der Kölner Friedensdemo – Spezial 03/22
Solidarität mit der Ukraine
Friedensdemonstration gegen den russischen Überfall – Spezial 03/22
Einigkeit im Dissens
#streitkultur mit Michel Friedman am Urania Theater – Spezial 02/22
„Natur in den urbanen Raum bringen’’
Sascha Rühlinger und Simon Nijmeijer über Tiny Forests – Interview 02/22
„Physische und soziale Barrieren beseitigen”
Un-Label-Gründerin Lisette Reuter im Interview, Teil 2 – Interview 01/22
„Inklusion wirklich umsetzen”
Un-Label-Gründerin Lisette Reuter im Interview, Teil 1 – Interview 01/22
Wenn Zuhause kein sicherer Ort ist
Beratungsstelle agisra in Köln – Spezial 01/22
Aus 15 wurde eins
„Ehrenfelder Kinogeschichte(n)“ in der Epiphaniaskirche – Spezial 01/22
Tiefe Glaubwürdigkeitskrise
Erzbistum Köln im Missbrauchsskandal – Spezial 12/21
Die Unentschiedenen
Kommentar: Kritik am Erzbistum Köln – Spezial 12/21
„Verfolgung der Drogenkartelle“ – CONTRA Cannabis
Michael Mertens von der Gewerkschaft der Polizei in NRW über die Verharmlosung von Cannabis – Gesellschaft 12/21
„In 50 Jahren nichts erreicht“ – PRO Cannabis
Dirk Peglow vom Bund Deutscher Kriminalbeamter e. V. fordert eine Neuausrichtung der Drogenpolitik – Gesellschaft 12/21
Raum der Erinnerung
NSU-Mahnmal in Köln-Mühlheim – Spezial 11/21
Das Elend überwinden
Arche für Obdachlose sammelt Hilfsgelder – Spezial 11/21