Ein Teil der Spenden aus der Adventssammlung der Kölner Diakonie (15.11.-6.12.) geht an Zuflucht – Zentrum für Kirchenasyl Köln. Das Projekt der evangelischen Nathanael-Gemeinde in Bilderstöckchen beherbergt und schützt seit Februar Menschen in akuter Abschiebegefahr. In den meisten Fällen geht es um Abschiebungen in das europäische Ersteinreiseland.
choices: Friedrich Merz sprach bezüglich Asyl- und Migrationspolitik zuletzt von einem „Problem im Stadtbild“, das es noch immer gebe. Was ist Ihre Meinung zu seiner Aussage?
Jan Niklas Collet: Dass Friedrich Merz immer wieder zu rassistischen Äußerungen greift, ist nichts Neues, daher überrascht mich seine Aussage nicht. Ich habe mich in den letzten Wochen mit der Normalisierung von rechten Positionen beschäftigt und mir YouTube- und TikTok-Videos der AfD angesehen. In Videos von vor ungefähr einem Jahr ist dann erschreckenderweise von einer „negativen Veränderung des Straßenbildes“ die Rede. Ich sehe Merz‘ Aussage nicht als Versehen, sondern als gefährlichen Versuch, die AfD möglichst klein zu halten, indem man ihren Diskurs und ihre Wortwahl kopiert.
Wie reagiert Ihr Umfeld auf Merz‘ Aussage?
Unsere Kirchenasylgäste bekommen das gar nicht mit. Von deren Leben ist die Diskussion komplett entkoppelt. Was die Helfer:innen anbetrifft, ist deren Wahrnehmung nicht, dass die geflüchteten Menschen für irgendjemanden eine Bedrohung darstellen. Es sind Menschen, die ganz schlimme Dinge erlebt haben, selber in Gefahr sind und einfach ein normales Leben in Deutschland führen wollen – wozu sie auch in der Lage wären, wenn man ihnen die Möglichkeit gäbe. Ich glaube auch nicht, dass sich hier irgendwer von diesen Äußerungen beeinflussen lässt. Man steht vielleicht kopfschüttelnd daneben, aber die „Stadtbild“-Aussage geht an der Realität hier vor Ort komplett vorbei.
Ein Teil der Spenden der Adventssammlung geht an die geflüchteten Menschen im Kirchenasyl. Was passiert mit dem Geld?
Die Menschen im Kirchenasyl bekommen keinerlei staatliche Unterstützung, weder in Geld- noch in Sachform, was bedeutet, dass sie ihren täglichen Bedarf wie Lebensmittel selbst decken müssen. Dafür zahlen wir ein Taschengeld von wöchentlich 50 Euro pro Person aus. Eine vierköpfige Familie bekommt demnach 200 Euro die Woche, was nicht viel ist. Dann fallen auch immer mal wieder Kosten außer der Reihe an. Die Menschen hier sind nicht krankenversichert. Es gibt in Köln zwar die Möglichkeit für eine Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Aufenthaltstitel und Krankenversicherung, aber es gibt häufiger mal Medikamente oder Dinge wie das Busticket für den Arztbesuch, die separat bezahlt werden müssen. Die Spenden kommen also am Ende direkt den geflüchteten Menschen zugute.
Wie kann man das Projekt auch ohne finanzielle Mittel unterstützen?
Für ein Kirchenasyl benötigt man im Prinzip drei Dinge: Bett, Brot und Beziehung. Bett und Brot können noch am einfachsten organisiert werden, aber für Beziehungen braucht es eben auch die Menschen, die sie eingehen. Dafür sind unsere Ehrenamtlichen da, die etwa in Form von Deutschkursen, Kinderbetreuung und der Begleitung bei Arztbesuchen ganz tolle Arbeit leisten. Dazu kommt, dass sich manche der Geflüchteten hier zum ersten Mal seit Monaten sicher fühlen und noch Schwierigkeiten haben, im Alltag anzukommen. Deshalb geht es auch viel darum, den Alltag der Menschen mitzuorganisieren. Zurzeit steht etwa St. Martin vor der Tür. Wir haben hier eine Familie, eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern. Die Ehrenamtlichen basteln Laternen mit ihnen und begleiten sie im Zug. Wer an solchen Sachen Interesse hat, kann gerne ehrenamtlich bei uns einsteigen, auch wenn es nur für eine Stunde die Woche ist.
Wie entscheiden Sie, ob Sie eine geflüchtete Person im Kirchenasyl aufnehmen?
Die Erstbearbeitung der Anträge erfolgt nicht durch das Projekt hier, sondern durch den Verein Ökumenisches Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW, bei dem ich ebenfalls angestellt bin. Das Netzwerk prüft, welche Kirchengemeinde welche Kapazitäten hat, und schlägt den jeweiligen Gemeinden konkrete Fälle vor. Es ist aber auf jeden Fall so, dass die Zahl der Anfragen für Kirchenasyl – also insgesamt, nicht nur für diese Gemeinde – die Zahl der zur Verfügung stehenden Plätze exponentiell übersteigt. Derzeit rechnen wir mit ca. 30 Anfragen pro Tag, haben aber nur Kapazitäten für fünf Beratungsgespräche die Woche. Der Trichter von der Anfrage bis hin zum Platz im Kirchenasyl ist also extrem schmal. Das liegt zum einen am Personalmangel und zum anderen daran, dass es zu wenig Kirchenasylplätze gibt.
Wie hat sich die Situation angesichts der verschärften Asylpolitik der Regierung verändert?
Seit einigen Jahren schon, noch vor der aktuellen Regierung, sind die Anfragen massiv angestiegen. Als ich beim Netzwerk angefangen habe, gab es noch eine offene Sprechstunde, was später nicht mehr möglich war, weil es einfach viel zu viel wurde. Teilweise standen dann an einem Morgen 40 Menschen vor der Tür und die Kolleg:innen haben bis spät in die Nacht Beratungen gegeben. Das hängt schon damit zusammen, dass der Abschiebungsdruck in den letzten Jahren erheblich gestiegen ist. Jedes Jahr vermeldet die Regierung ja ihre „Erfolge“, also wie viele Menschen abgeschoben werden konnten. Wenn man mal hochrechnet, gibt es in Deutschland ca. 41.500 unmittelbar ausreisepflichtige Personen. Im vergangenen Jahr wurden etwa 20.000 Menschen abgeschoben. Der Abschiebungsdruck kommt bei den Geflüchteten natürlich an und die Angst der Menschen ist teilweise enorm. Sie sehen ja in ihren Wohnheimen und Camps, dass dort ständig Abschiebungen stattfinden, wodurch der Druck noch größer wird. Dann spricht sich bei den Menschen herum, dass das Kirchenasyl eine der wenigen Möglichkeiten ist, Abschiebung mehr oder weniger sicher zu verhindern. Dadurch häufen sich die Anfragen natürlich.
Im vergangenen Jahr kam es auch vermehrt zu Räumungen von Kirchenasylen.
Das stimmt. Man kann hier aber zwei Geschichten erzählen. Die eine ist, dass wir seit Mitte 2023 in Deutschland so viele Räumungen und Räumungsandrohungen hatten, wie in den zehn Jahren davor zusammen. Die andere ist, dass sich die Anzahl von Räumungen im Verhältnis zu der Anzahl von Kirchenasylen im Promillebereich bewegt. Das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Anm. d. Red.) hat letztes Jahr ungefähr 2.400 Fälle von Kirchenasyl in Deutschland gezählt. Demgegenüber stehen etwa acht Fälle von Räumungen. In NRW haben wir eigentlich eine sehr günstige Lage wegen eines Erlasses vom Ministerium für Flucht. Der besagt, dass Kirchenasyle von Ausländerbehörden respektiert werden sollen, solange das Härtefallverfahren im Kirchenasyl noch läuft. Das Härtefallverfahren läuft so ab, dass wir Härtefalldossiers beim BAMF einreichen, das dann für die Beurteilung der Asylanträge verantwortlich ist. Die Ausländerbehörden sind eigentlich nur für den Vollzug von Überstellungen zuständig. Daran halten sich auch alle Ausländerbehörden in NRW. Bis vor kurzem war es sogar noch so, dass wir Härtefalldossiers eingereicht haben, mit denen bis zum Ende der Überstellungsfrist, also dem Tag, an dem eine Person noch legal abgeschoben werden kann, nichts passiert ist. Deswegen gab es in den letzten zwei Jahren in NRW zwar vereinzelt Räumungen und Räumungsandrohungen, aber in der überwältigenden Zahl der Fälle geschieht nichts.
Bei Ihnen gab es also keine Räumungsandrohungen?
Nein.
Die EU hat eine Reform des GEAS (Gemeinsames Europäisches Asylsystem) beschlossen, das EU-weite Standards für Migrationspolitik schaffen soll. Wie schätzen Sie die Folgen der anstehenden Umsetzung der Reform ein?
Die Situation der Menschen wird auf jeden Fall noch prekärer werden. Die Einzelheiten sind noch nicht bekannt, aber es zeichnet sich jetzt schon ab, dass die Fristen für das Dublin-Verfahren verlängert werden, was heißt, dass die Überstellungsfrist verlängert wird. Dabei kam immer wieder eine Frist von 36 Monaten bei Personen mit einer verlängerten Überstellungsfrist zur Sprache. Das würde bedeuten, dass man als geflüchtete Person 36 Monate in Deutschland in Angst vor Abschiebung ausharren muss, bis Deutschland für das Asylverfahren zuständig wird. Das ist natürlich eine unglaublich lange Zeit. Ein Kirchenasyl von 36 Monaten ist für die allermeisten Gemeinden auch wegen fehlender Kapazitäten kaum vorstellbar und wäre nur für eine geringe Auswahl von Gemeinden in bestimmten Einzelfällen möglich. Ich kann mir gut vorstellen, dass die GEAS-Reform aber auch in anderen Punkten das Leben der betroffenen Menschen schlechter machen wird.
In Hinblick auf Asyl und Migration ist die gesellschaftliche Stimmung polarisiert. Kam es bei Ihnen in letzter Zeit zu Anfeindungen gegen Helfer:innen und Asylsuchende?
Nein, sowas habe ich persönlich noch nicht mitbekommen.
Das Kirchenasyl hat keine gesetzliche Grundlage. Was sagen Sie zu der Kritik, das Kirchenasyl gehöre nicht zu einem demokratischen Rechtsstaat?
Wenn man sich schon auf den Rechtsstaat beruft, müsste man eigentlich als Allererstes darüber reden, dass rechtsstaatliche Garantien für ganze Gruppen in unserem Land nicht gelten. Schaut man sich die asylrechtliche Praxis anschaut, ist es so, dass geflüchteten Menschen grundsätzliche Rechte teilweise vorenthalten werden. Eine Diskussion, auf die man gut verweisen kann, ist die über Pflichtanwälte in Fällen von Abschiebungshaft. Friedrich Merz sprach diesbezüglich von „Tricks“, um sich der Abschiebung zu entziehen. Jetzt kann man sich mal überlegen, ob die Hinzuziehung eines Anwalts auch ein „Trick“ ist, wenn man selbst in einer rechtlichen Situation ist. Zu sagen, das Kirchenasyl untergrabe den Rechtsstaat, ist für mich also völlig unverständlich. Was das Kirchenasyl stattdessen macht, ist, den Geflüchteten zu helfen, ihre elementaren Menschenrechte wahrzunehmen. Wenn das gegen den Rechtsstaat verstößt, haben wir ein großes Problem.
Was ist Ihr Fazit zur Entwicklung des Projekts?
Ich bin total begeistert davon, wie sich das Projekt entwickelt hat. Wir haben ein bisschen ins Blaue hinein angefangen, weil zu Beginn nicht klar war, wie das alles funktionieren wird, aber ich bin sehr froh darüber, dass wir schon eine ganze Reihe von Menschen bis zum Ende des Dublin-Verfahrens begleiten konnten. Dann ist es auch so, dass das Projekt Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wir werden von anderen Kirchengemeinden angesprochen, die uns nach unserem Vorgehen fragen und Ähnliches planen. Das zeigt, dass von dem Projekt eine gewisse Strahlkraft ausgeht und dass wir es bisher gar nicht so schlecht gemacht haben.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Projekts?
Mein größter Wunsch ist, dass das Projekt nachhaltig bestehen bleibt. Ich finde, dass wir eine gute Grundlage für ein Projekt geschaffen haben, das hoffentlich noch viele Jahre in Bilderstöckchen fortbestehen wird.
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