Penthesilea und Achilles stehen sich im Kampf um Troja gegenüber: Sie ist Anführerin des Heeres der Amazonen, jener jungfräulichen Kriegerinnen, die sich auf dem Schlachtfeld den unterlegenen Gegner zwecks Zeugung des Nachwuches erwählen. Nach der Vereinigung entlassen die Kriegerinnen die Besiegten in ihre Heimat und gehen keine weitere Bindung mit ihnen ein, so will es das Gesetz des Amazonenstaates – ein Zusammenschluss emanzipierter Frauen also, denen ihre Autonomie höchstes Anliegen ist.
Achilles seinerseits ist Anführer der Griechen, ein listenreicher Eroberer, der mit seinem Heer die Amazonen schlägt und sich in Penthesilea verliebt. Damit er sie für sich gewinnen kann, gibt er vor, der Unterlegene zu sein, ihr Heer habe das seine besiegt, die Niederlage der Amazonen sei nur ein schlechter Traum von Penthesilea, nachdem sie während des Kampfgeschehens in Ohnmacht gefallen sei. Allzugerne schenkt die stolze Kriegerin Achilles Glauben und gesteht – entgegen dem Gesetz der Amazonen – dass sie sich schon auf dem Schlachtfeld in ihn verliebt habe. Später ermöglicht sie ihm sogar die Flucht, als das Kriegsgeschehen sich doch noch für die Amazonen zum Positiven wendet. Damit wird sie zur Verräterin und verliert ihre Führungsposition. Achill fordert sie erneut zum Zweikampf, will sich aber diesmal von ihr besiegen lassen. Nicht wissend von seiner Absicht fühlt Penthesilea sich und ihre Liebe verraten und nimmt mörderische Rache.
Othmar Schoeck stellt in seiner 90 Minuten langen Oper das Scheitern zweier Liebender in den Mittelpunkt, die in ihren vorgegebenen Geschlechterrollen gefangen sind. Der Liebeskonflikt entzündet sich an dem Selbstverständnis der beiden Protagonisten: Eine emanzipierte, kämpferische Frau trifft auf einen klassischen Eroberer, beide fühlen sich zueinander hingezogen und scheitern letztendlich an ihrem unterschiedlichen Rollenverständnis von Mann und Frau. Kleists Worte bilden dabei für Schoeck die eigentliche Melodie des Werkes, denen die Musik lediglich Harmonie und Rhythmus hinzufügt. Der überwiegend rezitativisch deklamatorische Gesang erreicht eine hohe Wortverständlichkeit, wozu die Wahl der tiefen Stimmfächer für die Hauptpartien kommt: Die konsonantenreiche Sprache Kleists verlangt entgegen der Opernkonvention nicht nach einem Sopran und Tenor, sondern nach einem Mezzosopran und Bariton. Die dominierenden Bläser des Orchestersatzes, darunter zehn (!) Klarinetten sowie das reiche Schlaginstrumentarium vermitteln ein dunkel metallisches, „bronzenes“ Klangbild.
In der Weimarer Republik, der Entstehungszeit der Oper, war das Aufbrechen erstarrter gesellschaftlicher Strukturen und die Emanzipation der Frau ein hochaktuelles Thema: Viele Frauen suchten (zumindest in den Großstädten) nach neuen Geschlechtsidentitäten und -rollen jenseits der männlichen Zuweisungen und probierten sich in neuen Formen des Zusammenlebens aus. Manche suchten die Emanzipation von der klassischen Frauenrolle in der Vermännlichung, also der Negierung der eigenen Weiblichkeit – vergleichbar den Amazonen der griechischen Mythologie, die sich als Bogenschützinnen die rechte Brust amputierten. Schoecks Oper wirft Fragen zum Geschlechterverständnis auf, die auch heute nichts an ihrer Aktualität verloren haben.
Wo zu sehen in NRW?
Oper Bonn | 12.11., 2.12., 14.12. je 19.30 Uhr; 19.11. 18 Uhr | www.theater-bonn.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die Theater im Wohnzimmer
Digitaler Theater-Rundgang in Bonn am 26. April
Suppe ist für alle da
Kinderoper „Pünktchen und Anton“ als deutsche Premiere – Bühne 02/21
Operette im Baströckchen
„Die Blume von Hawaii“ in Hagen – Oper in NRW 12/20
100 Jahre „Die tote Stadt“
Oper Köln begeht Korngold-Jubiläum – Oper in NRW 12/20
Das Herz des Liebhabers
Oper Köln zeigt George Benjamins „Written On Skin“ – Oper in NRW 11/20
Der Traummann bringt das Verderben
„Dido and Aeneas“ in Essen – Oper in NRW 11/20
Cis, WAP und Widerstand
Premieren im Rheinland – Prolog 11/20
Wagner-Konzentrat für zwei
90 Minuten „Tristan XS“ an der Aalto-Oper in Essen – Oper in NRW 10/20
Mit Mozart aus der Krise
Regielegende Michael Hampe inszeniert „Die Zauberflöte“ – Oper in NRW 10/20
Perlen des Opernrepertoires
Spielzeitauftakt an der Essener Aalto-Oper – Oper in NRW 09/20
Mein Ende gehört mir
„Orpheus und Eurydike“ als Kommentar zur Sterbehilfe – Oper in NRW 04/20
Erster Mord der Weltgeschichte
„Kain und Abel“ in Essen – Oper in NRW 03/20
Holland-Trump trifft Spaß-Guerilla
„Zar und Zimmermann“ in Hagen – Oper in NRW 03/20
Jesus als Backstreet-Boy
„Jesus Christ Superstar“ in Wuppertal – Oper in NRW 02/20
Land des verschwindenden Lächelns
Sabine Hartmannshenn krempelt Lehár-Operette in Essen um – Oper in NRW 02/20
Wozu Kunst?
Hagen begeht Bauhaus-Jubiläum mit Oper „Cardillac“ – Oper in NRW 01/20
Opernkrimi à la Hitchcock
„Die Sache Makropulos“ in Gelsenkirchen – Oper in NRW 01/20
Der Graf macht Tempo
Erfolgsoperette „Der Graf von Luxemburg“ in Hagen – Oper in NRW 12/19
Unfähig zur Verantwortung
Immo Karamans und Fabian Poscas „La Bohème“ in Wuppertal – Oper in NRW 12/19
Nur das Monster kann nicht singen
Moderne Frankenstein-Oper von Jan Dvořák – Oper in NRW 11/19
In der Gosse von Tschernobyl
Tschaikowskis „Pique Dame“ in Essen – Oper in NRW 11/19