Anfangs war er für mich so etwas wie der Weihnachtsmann. Alt, mit riesigem Rauschebart, ehrwürdig, nahezu furchteinflößend. Auf jeden Fall immer gerecht und wunderbar allumfassend. Jemand, der Dir die Welt erklärt und auf dessen Schoß Du nie allein bist. In dessen Name jeder einen Teil vom großen Ganzen abbekommt und der nur dann bestraft, wenn Du zu besitzgierig oder sonstwie böse bist. Die Marxisten, die ich kennenlernte, waren entweder Opfer des Naziregimes und damit moralisch unantastbar, oder junge engagierte Streiterinnen und Kämpfer, in deren Herzen das Feuer der Gerechtigkeit brannte. Für ein T-Shirt mit rotem Stern drauf wurde man in der Straßenbahn noch angespuckt, ach, was schien die Welt einfach.
Später wurde aus Onkelchen Kalle für mich ein bärtiges Schreckgespenst. An der Uni flog ich im ersten Adorno-Seminar wegen hysterischen Kicherns raus, und schon bei Marcuse war dann ganz Schluss mit lustig. Marx, das war der Bezugspunkt für so gut wie jede politische Theorie, die ich als wesentlich empfand. Aber verstehen? Nicht mal ernsthaft lesen konnte ich ihn. Die Diplomprüfung bestand ich trotzdem – zum Thema „Dialektische Kritik der Warenästhetik“ hatte ich tafelweise Milka mit weißem Kuhfleckenmuster als Anschauungsobjekt kapitalistischer Warenoberflächen mitgebracht. Das war es, was ich unter Materialismus verstand. Es funktionierte – die Profis versüßten sich damit die Prüfung, und ich wurde mit der Note 1 auf den akademischen Arbeitsmarkt geschmissen. Wo mir mein sekundärmarxistisch geschultes Denken natürlich ausschließlich Freunde machte.
Und heute? Kann man sich einen Marx wieder herbeiwünschen wie eine Art Gandalf. Der kluge Zauberer, den wir dringend brauchen. Denn das große böse Auge Saurons beobachtet uns überall, wir können kaum noch etwas konsumieren, ohne dass am anderen Ende der Welt Menschen und andere Tiere darunter leiden, und so etwas wie echte Solidarität gibt's nur noch unter Fans des FC St. Pauli. Wie soll man sich da nicht wünschen, dass ein weißbärtiger Mann erscheint, mit seinem Stock laut auf den Boden schlägt und endlich für Gerechtigkeit sorgt. Kein Führer, sondern ein Analytiker. Kein Heilsbringer, sondern ein Hinterfrager. Jemand, der eine alternative Gesellschaft für möglich hält. Der dafür streitet, dass es Gerechtigkeit und gleichzeitig individuelle Freiheit gibt. Und bei dem jeder einen Anteil hat an dem, was er erzeugt – also mitbestimmen kann. Denn auch dafür steht Marx, und das war noch nie falsch, mag er auch noch so falsch verstanden worden sein.
Marx wurde dämonisiert und vergöttert, fehlinterpretiert und instrumentalisiert. Aber immerhin: in einer deutschen Stadt zeigt er heutzutage den Menschen, wo es langgeht. In seiner Geburtsstadt Trier widmete man ihm eine Ampel. Zu sehen ist er dort mit Gehrock, Wallemähne und Buch unterm Arm – in guter alter DDR-Tradition als Ampelmännchen. Nein, natürlich ist das nicht nur ein Marketing-Gag für Touristen und Einheimische, sondern wenigstens dieses eine Mal ein liebevolles Geschenk des Kapitalismus für seinen größten Kritiker. Na dann: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Genosse!
KARL MARX – Aktiv im Thema
karl-marx-ausstellung.de | Die im Mai eröffnende große Marx-Ausstellung in zwei Trierer Museen ist eines der Highlights des Jubiläumsjahr.
bpb.de/apuz/247627/das-kapital | Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“, in der kluge Köpfe die Frage nach Marx‘ Aktualität zu beantworten suchen.
rosalux.de/publikation/id/38347/marxte-noch-mal | Doppelheft der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Marx-Jahr. 200-Seiten-PDF zum Download.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Marx begreifen
„Wir sind Affen eines kalten Gottes“ am Schauspiel Köln – Theater 05/18
Marx’ schärfstes Schwert
Klassenkampf als bestes Mittel gegen deprimierende Verhältnisse
„Die Gegenwart bestätigt Marx in bedrückender Weise“
Wirtschaftswissenschaftler Klaus Peter Kisker über Marxismus heute
Selbstoptimierung oder Solidarität?
Auf der Kölner Karl-Marx-Tagung am 14.4.
Freiheitskampf zwischen LEDs
Widerstand in einer fast wirklichen Welt – Glosse
Zu Fuß zur Gerechtigkeit
Von Bahnen, die nicht fahren – Glosse
Glück auf Klick
Von digitalen Keksen und echter Pasta – Glosse
Scheiße, ich blute!
Ist die Geschichte der Menstruation voller Missverständnisse? – Glosse
Machmenschen
Was es braucht für die grüne Stadt – Glosse
Falsch, aber wichtig
Vom Wesen der Wirtschaftstheorie – Glosse
Diplomatische Kalaschnikow
Über einen missverstandenen Beruf – Glosse
Der unglaubliche Alk
Von einem Vogel, den es nie wieder geben wird – Glosse
Die weise Frau mit den Gurken
Praktische Lektionen in Sachen Kultur – Glosse
Phallische Beeren
Man muss nicht klug essen, um ein Klugscheißer zu sein – Glosse
Kick per Klick
Von künstlich-intelligentem Nachwuchs und digitalen Partnern – Glosse
Systemabsturz
Im Teufelskreis ungesunder Arbeit und Beziehungen – Glosse
Statische Unruhe
Digital verseucht – Glosse
Sparkapsel
Stolze Männer (voran!) - Glosse
Pardon, wie wichtig ist Ihnen Aura?
Eine absurde Glosse über museale Raubkunst und Walter Benjamin – Glosse
Äff den Mann nach
Zur Gleichberechtigung in kleinsten Schritten – Glosse
Schweißlos vernetzt
Demokratie und Überforderung im World Wide Web – Glosse
Plastik-Perversion
Die verheerenden Auswirkungen des Plastikproblems – Glosse
Geliehene Jugend
Meine WG, meine drei Nebenjobs, mein Gebrauchtfahrrad – Glosse
Vom Winde versorgt
Nachhaltige Energien im Diskurs – Glosse
Teutonisches Kopfnicken
Auf der Suche nach einer Identität zwischen Verbrechen und Klischees – Glosse