Das Publikum geht suchend, orientierungslos durch den industriellen Raum im Stadtgarten, als wüsste es nicht, wohin es soll. Tatsächlich ist diese Zerstreuung Programm. Zwei Fernseher hängen an der Wand. Über den einen werden später gespenstisch anmutende Bilder und Fragmente der heutigen Heldin des Abends, Luise Brand, flackern. Auf dem anderen steht „TV DDR 1“. Irgendwie fühlt man sich ein bisschen beobachtet. So als würde Honecker gleich in Persona durch die Decke poltern oder einem durch die Kamera entgegenwinken. Sitzplätze gibt es auch keine. Stattdessen findet am Sonntag die gesamte einstündige Performance im Stehen statt.
Dann betreten Susanne Sachsse und Marc Siegel, die eine mehr denn je glitzernde, queere Vaginal Davis mit silbernem Gesicht im Schlepptau haben, den Raum und positionieren sich als Trio in der einen Hälfte, während sich diagonal dazu der ein quietsch-pinkfarbenes Kostüm tragende Musiker, Begründer und Sänger der kalifornischen Postpunk-Band Xiu Xiu, James Stewart, genannt „Jamie“, auf die Bühne stellt.
Tatsächlich sind Positionen heute von Bedeutung, denn die Geschichte, die sie ihrer damals in der ehemaligen DDR lebenden Großmutter widmet, erzählt Schauspielerin und Regisseurin Susanne Sachsse in „Original Sin“ aus verschiedenen Perspektiven. So muss der Zuschauer sich in dem Stück, das in Kooperation mit dem Goethe-Institut, den Münchner Kammerspielen und der Kunsthochschule für Medien Köln entstand und vom Kölner Stadtgarten und der Akademie der Künste der Welt veranstaltet wird, tatsächlich bewegen, um alles sehen zu können. Statt einer linearen hagelt es verschiedene, parallele Geschichten und Wiederholungen.
Gleichzeitig spiegeln die unterschiedlichen Standpunkte die zwiegespaltene Meinung Sachsses zu ihrer Großmutter, einer berufstätigen Familienmutter, wider, der sie einerseits mit Respekt, andererseits aber auch kritisch begegnet, ist Sachsse doch eigentlich kein Fan von Besitz. Doch auf ihre persönliche Weise rebellierte ihre Oma, die in einem großen Haus mit zwei Kindern, einem älteren Ehemann, zwei Hunden und einem jüngeren Liebhaber in einem Dorf in Thüringen hauste, sehr wohl gegen das DDR-Regime, waren doch die eigenen vier Wände eigentlich eine Traumvorstellung des kapitalistischen Westens und nicht des sozialistischen Ostens. Was die beiden jedoch gemeinsam haben, ist, dass auch im kommunistischen Sozialbau der Schwerpunkt eher auf der bürgerlichen Kleinfamilie und weniger auf Kommunen lag. Die Kleinfamilie als Ovolum des Staates. So schreibt und singt Sachsse:
„Staatsprogramm Familie ....
Geheiligte Zelle des ruhmreichen Sozialismus
SIE wusste es besser ....
Die Familie muss weg ...“
Auf ihre Art sprengte Brand also sowohl politisch die Mauern der DDR als auch privat und gesellschaftlich die der Normvorstellung von einer Familie. „Meine Großmutter hat mir gezeigt, dass man vor nichts Angst haben muss“, so Sachsse. „Und dass es neben der traditionellen Vater-Mutter-Kind-Familie noch andere Möglichkeiten des Zusammenlebens gibt.“
Was nun folgt, ist eine intensive, theatralische Performance mit einem auf der einen Seite großartig auf sein Schlagzeug eindreschenden und sich konstant bewegenden Jamie Stewart, der mit seiner tiefen Stimme experimentelle, industrielle und avantgardistische Post-Punk-Klänge vom Feinsten liefert, und kontrastiv dazu einem nahezu statischen Trio, das von Sachsse selber verfasste poetische Texte, die auch ans Publikum ausgehändigt werden, mal schreiend, mal singend mittels verschiedener Stimmen in Gesprächsform vorträgt. Regieanweisungen, Einstellungen und Rechtschreibfehler inklusive. Während nun eine blonde, ein wenig an Hitchcock-Filme oder Film Noir erinnernde Frau gespenstisch auf dem Bildschirm erscheint, wird gleichzeitig der Text vorgetragen:
„Die EINE, die Frau, BLOND dressd to kill (...) die MASSE ist nur schön, wenn DU heraussticht .......... JUNGPIONIER! FAHNENAPPELL! .... Fingiere eine Ohnmacht!....... Nie wieder in Reih UND Glied .......“ (sic!)
Die Fragen, die um „Original Sin“ kreisen, sind: Wie lebte es sich als arbeitende Mutter in der ehemaligen DDR? Was ist der Unterschied zwischen Besitz im einstigen Ostgebiet und im westlichen Kapitalismus? Welche Wirkung hat Eigentum auf den Menschen?
Zwischendurch sorgt ein sich verselbstständigendes Klavier, das plötzlich gespenstisch, einem Roboter ähnlich, von selbst zu spielen beginnt, zusätzlich für Aufmerksamkeit und Verwirrung. Nervös versucht der Zuschauer abermals, den sonst normalerweise da hockenden Musiker wie gewohnt anzupeilen, die Realität in einer einzigen Wahrheit zusammenzufassen. Eine klare Antwort zu finden. Doch vergeblich. Denn diese gibt es nicht. Stattdessen scannt er verzweifelt das Klavier ab. Auf der Suche nach was? Nach der wahren Geschichte Luise Brands? Nach Spuren aus der DDR? Nach Abhörgeräten? Wanzen?
Das Publikum hat an diesem Abend eine wahrhaft schwierige Rolle: Dadurch, dass es stets in die Performance und in die Geschichte integriert und über sämtliche Details informiert wird, rutscht es immer wieder in die Rolle des fast schon peinlichen Beobachters.
Mittels eines Super-8-Films aus Brands Nachlass werden immer wieder Bruchstücke aus ihrer Vergangenheit rekronstruiert und in die Gegenwart hineinkatapultiert – etwa die Büste der Großmutter – während parallel dazu mal gruselige, mal elektronische, dann düstere und psychodelisch anmutende Musik von Stewart, der das Stück musikalisch leitet, erklingt, bis schließlich das Lieblingslied Luise Brands, „Teenager in Love“ gesungen wird: „Why must I be a teenager in love?“
So schreibt Sachsse in „Original Sin“:
„The head of state calles for ‚less eroticism‘“ (sic!)
„husband 15 years older
lover 15 years younger
2 daughters
2 dogs 6 servants“
Zu guter Letzt liefern sich Sachsse, die großartig(e), usprünglich aus der Underground-Szene in Los Angeles stammend(e), heute in Berlin lebend(e), queere und intersexuelle(r) Künstler(in) mit dem gigantischen Namen Vaginal Davis, und Marc Siegel erneut einen Dialog – diesmal ironischerweise in Form von Fürbitten. Susanne Sachsse und Xiu Xiu ist es mit der Konzert-Performance „Original Sin“ gelungen, auf glamoröse und berührende Weise, die Geschichte ihrer Oma einerseits sowie die Gespenster der DDR anderseits musikalisch und poetisch zu reloaden. Die Mauern, das Regime und ihre Oma sind tot. Ihre Geister leben jedoch weiterhin.
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