Die 80er-Jahre in England: Margaret Thatcher, der Falkland-Krieg, Bergarbeiterstreiks – und etliche Popbands in den Charts, die die heteronormativen Vorstellungen der Gesellschaft durch ihre Auftritte im Fernsehen ordentlich durcheinanderwirbelten: darunter Soft Cell, Culture Club, Bronski Beat, The Communards... Die Ballade „The Power of Love“ von Frankie goes to Hollywood sieht sich der Mittvierziger Adam (Andrew Scott), der in den 80er Jahren in London aufwuchs, auch heute noch auf einem alten Videomitschnitt im Fernsehen immer wieder an. Auch, als ein Feueralarm losgeht. Es scheint nicht der erste Fehlalarm in dem fast unbewohnten Hochhaus am Rande Londons zu sein. Adam macht sich entspannt auf, das Haus zu verlassen. Unten angekommen, sieht er hinter einer Fensterscheibe den deutlich jüngeren Harry (Paul Mescal). Wieder in seiner Wohnung angekommen, klingelt dieser – offensichtlich angetrunken – und sucht Gesellschaft. Adam weist ihn und sein offensichtlich auch erotisches Angebot zur Zweisamkeit freundlich ab. Er ist zu sehr mit sich selber beschäftigt. Der Drehbuchautor sitzt an einem autobiografischen Stoff über seine Kindheit und Jugend. Als er zwölf Jahre alt war, sind seine Eltern bei einem Autounfall gestorben. Sein schwules Erwachen konnte er nicht mit ihnen teilen, seine Einsamkeit wurde nur von den gleichgesinnten Bands im Fernsehen ein wenig gemildert. Doch einen heilenden Zugang zu seiner Vergangenheit zu finden, fällt ihm schwer. Als er sich zum Haus seiner Kindheit aufmacht, trifft er auf seine Eltern (Jamie Bell und Claire Foy) im Alter ihres Todes – sie sind nun genau so alt wie er. Endlich kann er mit ihnen über alles sprechen, was bislang ungesagt blieb und ihn in eine große Einsamkeit getrieben hat. Die Story von „All of Us Strangers“ (OmU im OFF Broadway) basiert auf dem Roman „Ijintachi to no natsu (dt. Titel: „Sommer mit Fremden“, 2007) des japanischen Schriftstellers Taichi Yamada aus dem Jahr 1987, das gleich im folgenden Jahr von Nobuhiko Obayashi verfilmt wurde (engl. „The Discarnates“). Andrew Haigh („45 Years“) ist ein hochemotionaler Film gelungen, der es schafft, in eleganten, traumwandlerischen Bildern die Seelen seiner Protagonisten zu erforschen. Dabei inszeniert er die fantastischen Momente seiner Zeitreise-Geschichte vollkommen unspektakulär, wie Tagträume. Das ähnlich gelagerte Spiel seiner Darsteller, allen voran Andrew Scott als Adam und Paul Mescal als Harry, fließt förmlich durch diese Bilder.
30 Jahre nach seinem Cannes-Debüt mit „Der Duft der grünen Papaya“ hat Tran Anh Hung nun für seinen neuen Film „Geliebte Köchin“ (Cinenova, Odeon, UCI, Weisshaus) den Regiepreis gewonnen. Seit 20 Jahren kreieren Dodin (Benoît Magimel) und Eugénie (brillant: Juliette Binoche) köstlichste Gerichte. Während Magimel für die Verführung steht, personifiziert Binoche die Sinnlichkeit in dieser von Jonathan Ricquebourgs geradezu genüsslich bebilderten Love Story. Das bei diesem romantisierenden Blick auf das ausgehende 19. Jahrhundert kritische Gesellschaftsfragen außen vor bleiben, ist nur konsequent – man will sich ja schließlich den Appetit nicht verderben lassen.
Und eines Tages steht das FBI vor der Tür. Dies ist der Alptraum von Menschen, die für ihre Jobausübung in den USA von der berüchtigten „Clearance" abhängen, dem Beweis, hochgradige Staatsgeheimnisse für sich behalten zu können. Die junge Reality Winner (Sydney Sweeney) will für Staatsaufgaben nach Afghanistan, als ihr ein Durchsuchungsbefehl unter die Nase gehalten wird. Der Vorwurf: Sie soll geheime Unterlagen an eine Zeitung geleakt haben, die Informationen zur russischen Beeinflussung der US-Wahlen enthielten. Es ist 2017 – und Donald Trump gerade erst an die Macht gekommen. Aus dem realen Vorfall hat die Amerikanerin Tina Sattler in ihrem Regiedebüt „Reality“ (OmU im Filmhaus, in den Lichtspielen Kalk und im Odeon) den Mitschnitt der Untersuchung minutiös nachinszeniert. Ein spannendes Kammerspiel zwischen der 25-Jährigen und den mächtigen Männern des FBI.
Außerdem neu in den Kinos: Aitch Albertos Bestseller-Verfilmung „Aristoteles und Dante entdecken die Geheimnisse des Universums”, Blitz Bazawules Musical-Adaption „Die Farbe Lila” (Cinedom, Cineplex, Residenz, UCI), Klaus Härös außergewöhnliche Liebesgeschichte „My Sailor, My Love” (Cinenova) und Bryce McGuires Plansch-Horror „Night Swim” (Autokino Porz, Cinedom, Cineplex, UCI).
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