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Sorry We Missed You

Sorry We Missed You
Großbritannien, Belgien, Frankreich 2018, Laufzeit: 100 Min., FSK 12
Regie: Ken Loach
Darsteller: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone
>> www.sorrywemissedyou-derfilm.de

Erschütternder Blick auf das Prinzip des Turbokapitalismus

Sprinter im Hamsterrad
„Sorry We Missed You von Ken Loach

Vielleicht hat man nach dem Film einen etwas anderen Blick auf den Paketboten, der nicht korrekt abliefert. Doch in „Sorry we missed you“ geht es nicht nur um Paketboten, und es geht auch nicht um einzelne Menschen. Der neue Film von Ken Loach – seit über 50 Jahren und fast 30 Kinospielfilmen (dazu etliche Fernsehfilme und -serien sowie Dokumentarfilme) wohlmeinender Chronist der Menschen, die drohen, in einem unmenschlichen System unter die Räder zu kommen, zeigt, wie sich das System die Menschen untertan macht. Oder: wie sich die Menschen dem System untertan machen. Es geht aber zuerst um strukturelle Probleme, nicht um Schuldsuche bei Einzelnen. Der Titel des Films ist dem Zettel entnommen, den der Paketbote an die Tür klebt, wenn er zuhause niemanden antrifft. Er lässt sich aber genauso gut auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in dem Film anwenden.

Ricky Turner (Kris Hitchen) möchte seiner Familie ein Eigenheim bescheren. Noch wohnen sie als klassische Vertreter der unteren Mittelschicht etwas beengt zur Miete, und die frisst Monat für Monat einen großen Teil des kleinen Einkommens der Familie auf. Während sich Ricky mit allen möglichen Jobs als Handwerker oder auf dem Bau durchschlägt, ist seine Frau Abby (Debbie Honeywood) als liebevolle mobile Altenpflegerin tätig. Der ältere Sohn Seb lässt die Schule schleifen, die jüngere Tochter Liza versucht, die Erwartung der Eltern zu erfüllen, durch gute Leistung einmal mehr Chancen als sie selber zu haben. Durch ein Vorstellungsgespräch bei einem Paketlieferanten wittert Ricky die Chance, aus dem Kreislauf der relativen Armut auszubrechen: Ihm wird angeboten, als selbstständiger Auslieferer mehr Freiheiten und mehr Gewinnchancen zu haben. Wenn er einen Lieferwagen bei der Firma mietet, geht aber täglich ein hoher Betrag für die Miete drauf – wie beim Eigenheim glaubt er, dass ein eigener Kleintransporter die Lösung wäre. Dafür muss Ricky auch den Wagen der Familie verkaufen, den Abby für ihre Arbeit benötigt. Abby muss von nun an ihre Arbeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln organisieren, während Ricky im Eiltempo Pakete ausliefert. Das System funktioniert, wenn alles nach Plan läuft. Aber die kleinste Abweichung führt zum Chaos. Wird einer in der Familie krank, muss ein Elternteil zum Gespräch in die Schule, kommt ein Notruf von Abbys Patienten oder findet Ricky eine Adresse nicht schnell genug, dann kollabiert das fragile System. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: Ein kleiner Unfall mit dem Lieferwagen, ein Anruf einer verzweifelten Patientin, eine Vorladung von Sebs Lehrern ... Längst hat das System auch die zwischenmenschlichen Beziehungen der vier Familienmitglieder fest im Griff. Da hilft auf Dauer auch kein guter Wille. Die Eltern haben keine Zeit für die Kinder, die auf ihre Art darauf reagieren, was wiederum vor allem Ricky, der sowieso ein Problem mit seinem Jähzorn hat, triggert. 

Die Handlung ist während der großen Finanzkrise im Jahr 2008 in Newcastle angesiedelt, könnte genau so gut aber auch im Hier und Jetzt spielen. Auch die Familie könnte eine andere sein. Loach hat auch der Versuchung widerstanden, einen klaren Gegner aufzuzeigen. Stattdessen ist nicht nur Rickys Chef Teil des Systems, sondern auch Ricky, der selber unter dem Druck leidet, den er wiederum an Frau und Kinder weiter gibt. Man möchte in schütteln, wenn er von einer Haustür zur nächsten Hetzt. Die Modellbezeichnung „Sprinter“ für einen Kleintransporter einer bekannten deutschen Autofirma erhält in Ken Loachs neuem Film einen bedrohlichen Beigeschmack. Ab einem bestimmten Punkt möchte man nur noch, dass Ricky endlich innehält. Vielleicht auch, dass der realistisch inszenierte Film stoppt, weil es so schmerzt, zuzusehen, wie Menschen ihre Würde verlieren. Der Film endet dann nach 100 Minuten. Doch die Welt, die Ken Loach mit „Sorry we missed you“ abermals seziert, dreht sich weiter und immer schneller. Es fragt sich nur, ob das so sein muss, und ob man nicht einfach mal auf‘s Bremspedal treten sollte. Das ändert die Welt nicht, aber es ändert dich.

(Christian Meyer-Pröpstl)

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