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Mirja Biel
Foto: Thilo Beu

„Ein Rechtsruck in der Gesellschaft“

27. April 2017

Mirja Biel dramatisiert am Theater Bonn Yassin Musharbashs Roman „Radikal“ – Premiere 05/17

Dass die völkische Rechte nicht nur aus Dumpfbacken besteht, sollte sich inzwischen herumgesprochen haben. Es gibt eine bruchlose Kontinuität eines intellektuellen Rechtsradikalismus von der Zeit des 1. Weltkrieges bis heute. Und es gab immer Berührungspunkte mit der Politik. Nicht erst seit der Gründung der AfD. Der Thriller „Radikal“ des Journalisten Yassin Musharbash packt diese Erkenntnis in einen Plot, wie ihn sich John Le Carré hätte ausdenken können. Der muslimische Grünenpolitiker Lutfi Latif wird in den Bundestag gewählt wird und gerät prompt ins Fadenkreuz von Radikalen. Radikalen beider Seiten. Da sind zum einen die nationalistischen Islamophoben um den Staatssekretär Enzo Graether. Und da ist das Terrornetzwerk Al-Qaida, das einen tödlichen Anschlag auf den Vorzeigemuslim verübt. Angeblich. Bei den Ermittlungen von Latifs Assistentin Sumaya, dem Terrorexperten Samuel und der Journalistin Merle stellt sich heraus, dass gerade die intellektuelle Rechte vor nichts zurückschreckt. Ein Gespräch mit Regisseurin Mirja Biel, die sich am Theater Bonn den Thriller vornimmt.

choices: Frau Biel, „Radikal“ ist ein Kriminalroman oder Thriller. Sind Kriminalstücke mit ermittelnden Kommissaren auf der Bühne nicht völlig out?

Mirja Biel:
Wir wollten die Werkstattbühne für ein politisch gesetztes Projekt nutzen. An Beispielen wie Pegida, AfD oder Sarrazin lässt sich seit etwa 10 Jahren ein Rechtsruck in der Gesellschaft beobachten. Der Thriller von Yassin Musharbash beschreibt ein Attentat auf einen ägyptischstämmigen Bundestagsabgeordneten in Berlin, der dabei ums Leben kommt. Al-Qaida reklamiert die Verantwortung für den Anschlag für sich. Im Laufe des komplizierten Plots stellt sich heraus, dass das Attentat von einer rechten Zelle initiiert worden ist und  dass sich die Ziele beider „Interessensgruppen“, also Rechtsradikalen und Fundamentalisten an einem bestimmten Punkt decken. Der Krimi ist eine Superfolie, um damit die Kompliziertheit der Welt von heute auf eine eindringliche Weise zu beschreiben.

Im Kriminalroman geht es immer um das „Whodunit“?  Wie gehen Sie mit der klassischen Spannungsdramaturgie um?

Mirja Biel
Foto: ThiloBeu

Zur Person
Mirja Biel ist Regisseurin und Bühnenbildnerin und wurde 1977 in Kiel geboren. Nach einer Ausbildung zur Theatermalerin in Lübeck studierte sie Literatur-, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Berlin. 2007 schloss sie ihr Studium der Theaterregie an der Theaterakademie Hamburg ab. Sie realisierte in Bonn zuletzt „Werther“ und „Das Schloß“.

Grundsätzlich interessieren mich die Themen, die Yassin Musharbash anreißt, fast mehr als die Krimihandlung selbst. Ich glaube nicht so richtig an den Film Noir auf der Bühne. Wir haben versucht, den Plot zu verkürzen, weil er sehr kompliziert und schwer nachzuerzählen ist. Im Roman findet das Attentat an dem Grünenpolitiker Lutfi Latif erst nach der Hälfte des Buches statt, es gibt also viel Material jenseits des eigentlichen Plots. Außerdem arbeitet der Roman mit einem Umfang an Personal, der nicht auf die Bühne zu übertragen ist. Um den diskursiven Charakter des Abends zu unterstreichen, werden wir den Plot auf vier Hauptfiguren reduzieren, die sich stellvertretend für den Zuschauer an dem Material abarbeiten. Wir arbeiten also grundsätzlich mit einer Distanz zum Geschehen und auch zu den Figuren.

Welche Figuren und Themenfelder sind das?
Wir haben Latifs Assistentin Sumaya und ihren Cousin Fadi, beide palästinensischer Herkunft, über die die Frage von Heimat und Identität, aber auch der Zerrissenheit zwischen zwei Ländern verhandelt wird. Dann gibt es Samuel, den Islamwissenschaftler und Berater von Latif, der den Koran und den Islam gut kennt, im Laufe der Handlung aber mit seinen Überzeugungen ins Schleudern gerät, ob es sich dabei um eine friedliebende oder aggressive Religion handelt. Schließlich die Journalistin Merle, über die Themen wie Zynismus der Medien, Einseitigkeit von Darstellung und Meinungsmache abgehandelt werden.

Und die Figuren der rechten Zelle?

Für die rechte Zelle wird es eine chorische Lösung geben. Ich glaube, dass ein solcher Chor, der seine Aussagen massiv postuliert, eine größere Kraft hat, als wenn man das über Figuren im Dialog löst. Die Thesen der Zelle werden dann der Reaktion und Nachbewertung eines oder mehrerer Spieler gegenübergestellt. Unsere Fassung beinhaltet zum bisherigen Zeitpunkt dabei ausschließlich Romantext, selbst die Diskussionen zwischen den Schauspielern sind aus der Vorlage hergeleitet. Da ist kein Fremdtext eingeflossen. Das kann sich im Laufe des Probenprozesses natürlich noch ändern.

Manchmal klingt „Radikal“ ein wenig nach seiner eigenen Verfilmung.

Der Roman benutzt eine einfache Sprache. Musharbash ist Journalist, das ist offensichtlich. Es kommt darauf an, wie man den Fokus der Fassung setzt. Die Uraufführung folgte klar der Handlungsdramaturgie, unser Ansatz wird anders gewichtet sein. Verfilmt worden ist der Roman meines Wissens bisher nicht, ich kann mir das aber gut vorstellen.

Was bedeutet der Anschlag für die Figur der Sumaya?

Der Roman verhandelt, und das gelingt ihm auch hervorragend, was der Anschlag für den Alltag einer Muslima in Deutschland bedeutet. Mit welchen Vorurteilen muss sie kämpfen? Wie grenzt sie sich ab? Sumaya hat Probleme zu beten, weil sie nicht zum selben Gott beten will wie die Terroristen. Das sind spannende Fragen. Wir versuchen anhand von geschriebenen Figuren, uns mit Lebensrealitäten auseinanderzusetzen.

Wie realistisch ist andererseits die Vorstellung einer terroristischen Verschwörung aus dem Berliner Zentrum der Macht heraus?

Im Roman geht es um einen Staatssekretär, der Mitglied des Berliner Senats ist. Der Rest der Zelle bewegt sich außerhalb der Stadtregierung. Interessant ist allerdings, dass diese Verschwörer qua ihrer Ausbildung, ihres Berufs, ihres Einkommens in der Mitte dieser Gesellschaft angesiedelt sind. Wir haben es da nicht mit ungebildeten, frustrierten Verlierern zu tun, sondern mit Journalisten oder Rechtsanwälten. Inwieweit das Realität ist, wage ich nicht einzuschätzen. Fakt ist jedoch, dass eine intellektuelle extreme Rechte durchaus existiert.

Gibt es für diesen Staatssekretär Enzo Graether oder auch den Grünenpolitiker Latif eigentlich reale Vorbilder?

Musharbash verneint das und ist auch sehr vorsichtig gegenüber einer Abbildung auf der Bühne.

Gibt es für Sie ein Datum oder ein Ereignis, an dem rechtes Gedankengut salonfähig geworden ist?

Offensichtlich ist, dass sich die Sprache verändert. Mit dem Erscheinen von Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ sind bestimmte Formulierungen salonfähig geworden, die dann in der Bevölkerung Widerhall fanden. Mit den Pegida-Aufmärschen und der AfD-Gründung in den letzten vier Jahren zeigt sich, dass Teile der Bevölkerung das dankbar aufnehmen. Mit der erstarkenden Kommentarkultur in sozialen Netzwerken hat sich außerdem eine Aggressivität in der Sprache Bahn gebrochen, die mich befremdet und zutiefst erschreckt. Die kluge Volte des Plots liegt darin, dass er das derzeit gängige Erklärungsmuster, dass jeder Anschlag einen islamistischen Hintergrund hat, in Frage stellt und zu mehr Wachsamkeit auffordert.

„Radikal“ | R:Mirja Biel | 21.5.(P), 2.6., 7.6., 23.6., 30.6. 20 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08

Interview: Hans-Christoph Zimmermann

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