Ein einfacher Papiervorhang schwebt in der Mitte der Bühne. Auf ihn gemalt in erdigem Rot sind unzählige deformierte Körper, die sich ineinander schlingen. Das Ganze ist verstörend minimalistisch und dennoch absolut überwältigend. Es ist Donnerstag, der 9. November, und das Svetlana Fourer Ensemble feiert mit seinem grenzübergreifenden Dokumentar-Theater „Das Kind und der Krieg“ Premiere in der Alten Feuerwache. Unter dem Titel werden knapp einstündige Produktionen dreier Ensembles aus Deutschland, Ukraine und Russland präsentiert. Den Anstoß brachte der Konflikt in der Ukraine.
Aber nicht nur dort scheint ein kleiner Fehltritt ausreichend, dass die Situation weiter eskaliert: Amerika und Nordkorea, Deutschland und die Türkei, Spanien und Katalonien: Überall floriert der politische Konflikt. Wenn in „Das Kind und der Krieg“ eines deutlich wird, dann wie zerbrechlich unser alltägliches Leben ist. Wie schnell und unwiderrufbar das Leben plötzlich ein anderes sein kann. Wie sehr der Krieg an uns allen haftet. Ein Schatten, der über die Zeit und Generationen nie gänzlich verblasst.

Und gerade Kinder erleben den Krieg besonders intensiv, verstehen oft mehr, als die Erwachsenen ihnen zutrauen. Dies wird besonders deutlich an den Zeitzeugen-Interviews in den drei Ländern. Befragt wurden Personen, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg sowie den Krieg in der Ost-Ukraine miterlebten: „Ich erinnere, ich erinnere mich an alles - ich war noch ganz klein, aber ich erinnere mich an alles…“ (Eugenia Belkewitsch, 82 Jahre). Neben den Zeitzeugen wurden Akteure der ersten und zweiten Nachkriegsgeneration befragt, insgesamt etwa 30 Menschen, Erwachsene wie Jugendliche. Denn bis heute hallt das Echo des Krieges nach. Manches im Krieg erfahrende Grauen wird über Generationen vererbt.
Auf der Bühne werden Einzelschicksale beschrieben, ohne den Betroffenen einen Namen oder ein Gesicht zu geben, ohne viel Bühnenbild, Sound- oder Lichteffekte. Es sind die Worte, die Gestik und Mimik der Schauspieler, die intensive Bilder in den Köpfen entstehen lassen. Mal bilden ihre Körper die Nähmaschine der Großmutter, dann sind sie der Fluchtzug, der die Familie ins Ungewisse fährt.

Das erste Stück, von Svetlana Fourer, bietet einen Überblick über die Erfahrung der Kinder im Krieg, die anderen beiden widmen sich einem konkreten Szenario. So erzählt „Das Kind und der Krieg oder Fräuleinstadt“ unter der Regie von Andrij May (Wsewolod-Meyerhold-Zentrum, Kiew) von den Einzelschicksalen dreier Frauen. Die Evakuierung nach Sibirien, die Verschleppung zur Zwangsarbeit nach Deutschland und das Überleben des Krieges in einer Grube: „Es war sehr lange still. Es war niemand da, und ich entschloss mich, aus der Grube hochzuklettern. Die Vögel schrien so laut. Und ich wurde blind. Ich habe in dem Jahr noch keine Sonne gesehen.“
Im letzten Stück „Das Kind und der Krieg – Smolzenia“, unter Regie von Elena Gremina, Zarema Zaudinova und Michail Ugarov vom Moskauer teatr.doc, geht es um das 15-Seelen-Dorf Dolgoljadije. Es stand zwischen 1941 und 1943 im Zentrum des Krieges um die russische Stadt Smolensk. Zusammen mit den zwei zehnminütigen Pausen und kleinen Überziehungen füllte der Premiereabend fast vier Stunden. Am Ende sind alle erschlagen von dem Elend: Es ist zu viel, um alles zu verarbeiten. Aber so ist das, mit dem Krieg. Deswegen darf der kritische Diskurs um ihn nicht mit einem „Jetzt reicht es aber“ erstickt werden.
Im Dezember wird die Produktion in Moskau und Kiew aufgeführt.
„Das Kind und der Krieg“ | R: Svetlana Fourer, Andrij May, Elena Gremina, Zarema Zaudinova, Michail Ugarov | Do 16., Fr 17.11. 19 Uhr | Alte Feuerwache | 0221 97 31 55 10
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