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In privaten Betten ist sexuelle Vielfalt Realität
Foto: Laura Schleder

„Das wird man doch noch sagen dürfen…“

26. Juni 2014

Der konservative Rollback in der Mitte der Gesellschaft – THEMA 07/14 SEXUALITÄT

Was ist wohl die größte politische Demonstration im Jahr in Köln? Die Kundgebungen am Tag der Arbeit? Nein, falsch. Kleiner Tipp, sie hat auch mit Emanzipation zu tun. Es handelt sich um die Parade des Christopher Street Day, der in diesem Jahr in Köln am 6. Juli stattfindet. In den letzten Jahren zwar immer wieder als „rosa Karneval“ verspottet, kritisiert und durch diverse Fetisch-Teilnehmer mit Peitsche und Menschen an Hundeleinen im Image ramponiert, versuchen die Veranstalter in diesem Jahr die Kundgebung zu repolitisieren.

Das ist auch dringend notwendig, bei der sich beständig breiter machenden Homophobie im Land. Gegen einen wertneutralen Sexualunterricht an Schulen laufen in Baden-Württemberg nicht nur stramm Konservative oder fundamentale Christen Sturm. Nein, mit der Homophobie ist es wie mit dem Rassismus: beide fühlen sich in der Mitte der Gesellschaft wohl. Letzterer muss in der Mitte nicht mit dem Springerstiefel stampfen und ersterer gehört fast schon zum guten Ton. Das Wort „schwul“ ist eine verbale Allzweckwaffe vom Schulhof bis zum Fußballplatz, von der Theke bis zur Talkshow und Kommentaren. Besonders dort tarnt sich Homophobie unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit: „Das wird man doch noch sagen dürfen…“

Ein Beispiel ist der Publizist und Journalist Matthias Matussek, der in einem Kommentar zu einer Maischberger-Sendung für die Zeitung „Die Welt“ behauptete, alle nicht-heterosexuellen Lebensmodelle seien Formen „defizitärer Liebe“. Ausgerechnet Matussek schüttet das Kind mit dem Bade aus, weil er „Liebe“ mit „Kinder kriegen“ gleichsetzt und verwechselt. Was ist mit all den Hetero-Paaren, die keine Kinder bekommen können oder wollen? Defizitäre Liebe? Oder andersherum gefragt: Wie viele Kinder wurden durch Vergewaltigungen gezeugt? Die Verhöhnung von Vergewaltigungsopfern, ist ein Kollateralschaden den er billigend in Kauf nimmt, um nicht-heterosexuelle Lebensformen zu diskriminieren. Die Räder, die Matussek im Namen eines überlebten Konservatismus zurückdrehen will, sind kaum zu zählen. Fröhlich provozierend, versucht er mit fundamentalistischem Unsinn einen Konservatismus zu verteidigen, der seine eigene Überlebtheit mit – angeblich – christlichen Werten camoufliert. Verjüngungskur durch Rock’n'Rollback, sozusagen. Und das Alles nur, um sich und den Seinen zu versichern: Ein Kind braucht eine Mutter und einen Vater – Basta!

So traurig es ist, aber genau hier verläuft die Front in der öffentlichen Diskussion. Klischees werden reproduziert und christliche Werte, die sonst niemanden mehr hinterm Ofen hervorholen, formieren eine konservative Bewegung, die sich queeren Menschen an einem kritischen Punkt entgegenstellt: „Bei den Kindern hört der Spaß auf“, dröhnt es aus den Reihen besorgter Mittelschichtseltern, die ansonsten durchaus tolerant sein können. Der aufgeklärte Homophobe führt „fehlende Langzeitstudien“ an, und verleiht dem Adoptionsverbot für Homo-Paare einen quasiwissenschaftlichen Segen. Ja, man muss nicht unbedingt die Bibel wörtlich verstanden wissen, um Schwule zu hassen. Was aber Gleichberechtigung im Bereich der Bildung institutionalisieren könnte – ein weniger heterosexistischer Schulunterricht –, wird als „Gender-Ideologie“ und „Frühsexualisierung“ diffamiert. Als sei sexuelle Orientierung wahlweise eine Frage der Erziehung und ihre Thematisierung im Unterricht Propaganda.

Das Gefährliche daran ist, dass es nicht vereinzelt geschieht, sondern grenzübergreifend. Im Februar diesen Jahres zeigte die „Manif à tous“ – die „Demonstration für alle“ – in Paris mit 100.000 Teilnehmern gegen „die Ehe für alle“ deutlich, wie stark die Ablehnung gegen schwule oder lesbische Lebensmodelle mit und ohne Trauschein, mit und ohne Kind in Frankreich ist. Im April demonstrierten in Stuttgart wesentlich weniger Menschen. Ihr Protest lehnte sich aber an die „Manif à tous“ an. Hüben wie drüben wurde allen Formen der Sexualität, die nicht „normal“, oder gar „unnatürlich“ sind, die Feindschaft erklärt oder sie wurden pathologisiert. Die Heftigkeit der Proteste ist indes erstaunlich. Den Protestierern wird ja direkt nichts genommen. Sie verlieren ein Privileg: Das Privileg alleine Kinder großziehen und erziehen zu dürfen. Allein die Angst davor löst homophobe Gegenwehr aus. Die Horrorszenarien können dabei nicht dramatisch genug sein: Die Gesellschaft wird überaltern; Moral und Werte gehen verloren; bald wird man uns zur künstlichen Befruchtung zwingen usw. Das ist alles so alt, wie es unsinnig ist.

Schließlich kläglich wird es, wenn es heißt: „Kinder sollten nicht über sexuelle Vielfalt unterrichtet werden, solange sie es nicht von sich aus ansprechen.“ Niemand würde so etwas über Mathematik, Verkehrsregeln, Mobbing oder Rechtschreibung behaupten. Ganz davon abgesehen, dass Kinder derzeit permanent ungefragt mit der heterosexuellen Norm konfrontiert werden.


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BERNHARD KREBS

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