Wenn selbst der DJ streikt, wird es ernst. Als Reaktion auf Christians Missbrauch fällt Vater Helge nichts Besseres ein, als vom Einzug in das Familienanwesen zu berichten – Erinnerungen an eine andere Art der Inbesitznahme und des Eindringens. Doch als er dann seine Ablenkung abbricht („Scheiß drauf, ich mach hier Schluss“), will nicht mal der Mann an den Turntables die Party zum 60. Geburtstag weiter beschallen. Das lange Schweigen wird erst durch eine ekstatische Tanzszene aufgelöst.
Thomas Vinterbergs und Mogens Rukovs 1998 verfilmte Familiengeschichte enthüllt den Inzest des Unternehmers Helge an seinem Sohn Christian und seiner Tochter Linda, die sich umgebracht hat. Trotz des scheinbar einfachen Plots sind die Figurenbeziehungen verwickelt. Im Theater der Keller wird aus dem psychologischen Drama allerdings etwas völlig Unerwartetes – so faszinierend wie irritierend. Regisseurin Charlotte Sprenger macht daraus ein Happening mit Anklängen an Kollektivität, Psychotherapie und Psychodrama – also auch an die 1960er Jahre. Dafür hat die Regisseurin den Cast radikal ausgedünnt: die Mutter, Christians Freund Gbatokai, das Hauspersonal – alle gestrichen. Die Rollen sind zudem mit gleichaltrigen DarstellerInnen der Schauspielschule des Theaters der Keller besetzt, was den Eindruck des Kollektiven verstärkt.
Akteure und Publikum versammeln sich zunächst an der Bar und suggerieren so Gemeinschaft. Im Saal, der mit von der Decke baumelnden Jalousien dekoriert ist (Bühne und Kostüme:Eleonora Pedretti & Marina Diez Schiefer), formiert sich die Truppe gleich zum Chor („Thank you for the music“). Nach der Verstörung durch Christians erste Rede, flüchten sie in kindliche Versteckspiele und fisteln sich durch die Dialoge. Oder sie taumeln durchs Publikum mit der Frage: „Hast du meine Mama gesehen?“ Flucht oder Therapie? Regression als Heilung?
Allerdings unterbricht die Regie die Handlung immer wieder mit ekstatischen Tänzen mal von Helge, mal von Christian, die zwischen Flucht, Remedium, Kritik oder Archaik changieren – der Ibsensche Aufklärungsfuror im „Fest“ wird mit Assoziationen an Euripides‘ „Bakchen“ ausbalanciert. Die Erinnyen werden zu Mänaden. Wenn schließlich das ganze Ensemble im Nebel mit nackten Oberkörpern tanzt und schließlich eine tröstende Umarmungsorgie auch das Publikum miteinschließt, aktiviert die Inszenierung kollektivistische Phantasmen, die an das Living Theatre denken lassen. Die Atmosphäre kollektiver Nähe und Vertrautheit innerhalb des Ensembles reibt sich aber immer wieder an der Rollenindividualisierung, die mitunter als Zwang erscheint und so auch gesellschaftlich deutbar wird. Nicht gelungen dann die in unterschiedlichen Interpretationen durchgespielte Szene, in der der wiedergefundene Abschiedsbrief von Schwester Linda die Missbrauchs-Anschuldigungen Christians bestätigt. Am Ende allerdings betritt der 1942 geborene Ralf Harster die Bühne und hält lachend Helges Abschiedsrede. Aber da sind die jungen Schauspieler längst abgegangen, weitergezogen, während der alte Mann, der die 1960er noch erlebt hat, zugleich das Theater der Keller mitverabschiedet, das nach 45 Jahren seine Spielstätte in der Kleingedankstraße verlässt.
„Das Fest“ | R: Charlotte Sprenger | 1.6. 20 Uhr, 2.6., 16.6 je 18 Uhr, 20.6., 12.7. je 20 Uhr | Theater der Keller | 0221 31 80 59
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Neues aus der Filmdose
„Walter Bockmayer“ am TdK
Über zwei Ikonen
„Marlene Piaf“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 12/25
Muttärr! Oder: Dschungelbuch in Ulm
„Man kann auch in die Höhe fallen“ am Theater Der Keller – Auftritt 10/25
„Man darf nicht das falsche Leben leben“
Regisseur und Produzent Stefan Herrmann über „Ich, Samsa“ am Theater der Keller – Premiere 08/25
Unter blauäugigen Hunden
„Traudl Junge – Im Schatten des Bösen“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 06/25
Wurzeln inmitten von Ruinen
„Floating Seeds“ vom Theater der Keller – Prolog 06/25
Die Zukunft lauert im Egoisten
„Der ewige Spiesser“ am Theater der Keller – Auftritt 04/25
Nach Entlassung des Intendanten
Das Kölner Theater der Keller mit neuer Führung – Theater in NRW 04/25
„Ich erwische mich dabei, Stofftaschentücher zu bügeln“
Regisseur Sebastian Kreyer und Schauspieler Daniel Breitfelder über „Der ewige Spiesser“ am TdK – Premiere 03/25
Totale Berührung
„Do not touch!“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 03/25
Schussbereite Romantik
„Der Reichsbürger“ in der Kölner Innenstadt – Auftritt 01/25
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Auszeit der Ewigkeit
„Pyrofems“ von Wehr51 im Studio Trafique – Auftritt 12/25
Praktisch plötzlich doof sein
Helge Schneider präsentiert seine neue Tour – Prolog 12/25
„Man spürt den Theatermenschen“
Dirigent Daniel Johannes Mayr über die Bonner Wiederentdeckung der Oper „Die Ameise“ – Premiere 12/25
So verwirrend wie das Leben
„Berlin Alexanderplatz“ am Schauspiel Köln – Prolog 11/25
Verlorene Jahre
„The Drop“ am Jungen Schauspiel in Düsseldorf – Prolog 11/25
„Ein armes Schwein, aber auch ein Täter“
Regisseur Hans Dreher und Schauspielerin Laura Thomas über „Laios“ am Theater im Bauturm – Premiere 11/25
Von der Aufgabe des Denkens
Audiowalk „Jeder stirbt für sich allein“ in Köln – Auftritt 11/25
Gegen sich selbst antreten
„Fünf Minuten Stille“ am Kölner FWT – Theater am Rhein 10/25
Utopie auf dem Rückzug
Bertha von Suttners „Die Waffen nieder“ am Theater Bonn – Prolog 10/25
„Wir führen keine Monster vor“
Regisseurin Nicole Nagel über „Aufruhr der Stille #MeTooInceste“ am Orangerie Theater – Premiere 10/25
Die Moralfrage im Warenhaus
„Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ am Schauspiel Köln – Prolog 09/25