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Andreas Nölke
Foto: MPIfG/Astrid Dünkelmann

„Auswirkung auf die Schwächsten“

28. August 2019

Politikwissenschaftler Andreas Nölke über Probleme der Migration



Sie stehen als Linker der Migration kritisch gegenüber. Welche Kritik an der Migration ergibt sich für Sie?
Das ist relativ einfach. Es geht mir um einen einzigen Punkt: Die Auswirkung von Migration auf die sozial schwächsten Mitglieder der Gesellschaft bei uns. Denn die Form, in der Migration normalerweise stattfindet, führt dazu, dass die Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt für diejenigen, die ähnliche Qualifikationsniveaus haben, noch intensiviert wird. Dazu kommt die zusätzliche Konkurrenz beim Wohnraum oder bei den Sozialleistungen. Aber im Wesentlichen geht es um das Problem, dass denjenigen, denen es bei uns ohnehin schon am schlechtesten geht, zusätzlich Jobkonkurrenz erwächst.

In den Wirtschaftswissenschaften sind sich hingegen viele Menschen einig, dass sich Migration positiv auf die Wirtschaft auswirkt. Wie argumentieren diese Stimmen?
Es gibt aus ökonomischer Perspektive zwei Arten von Argumenten. Das eine kann ich unterstützen, das andere weniger: Das Argument, das für gewöhnlich in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen zu lesen ist und etwa auch einer aktuellen Bertelsmannstudie zugrunde liegt, ist der Fachkräftemangel. Wir müssten zunehmend qualifizierte Mitarbeiter aus dem Ausland holen, weil es diese Mitarbeiter bei uns nicht gäbe, so die Argumentation. Diese Ansicht teile ich nicht. Dahinter steckt vielmehr das Bedürfnis der Wirtschaft, Mitarbeiter zu möglichst günstigen Löhnen zu bekommen, ohne sich selbst groß um die dafür entsprechenden Qualifikationen bemühen zu müssen. Wir haben noch etwa 3,2 Millionen Unterbeschäftigte in Deutschland und ich denke, es wäre angebracht, dass sich die Wirtschaft erst darum kümmert, diese Leute in Lohn und Brot zu bekommen, bevor sie im größeren Maßstab Fachkräfte aus dem Ausland holt. Wenn die Unterbeschäftigung bei uns wegfiele, hätte ich gar kein Problem mit Migration. Aber im Augenblick erscheint mir diese Sichtweise aus der Bequemlichkeit der Unternehmer geboren. Es gibt noch ein zweites Argument, aus einer heterodox-keynesianischen Sichtweise heraus, das ich durchaus nachvollziehen kann – nämlich, dass der Zuzug von Menschen und die Investitionen, die zu ihrer Integration getätigt werden, wie ein kleines Konjunkturprogramm wirken. Das erhöht die Nachfrage und tut der Wirtschaft gut. Das Problem aber ist die Verteilung.

Was sind ihre Einwände?
Wie schon gesagt: Das Argument der Fachkräfte kaufe ich nicht, solange es bei uns noch so viele unterbeschäftigte Menschen gibt. Aber mein Haupteinwand ist die Verteilungswirkung. Diejenigen, denen es in unserer Gesellschaft gut geht, profitieren, wenn etwa Erntehelfer oder billige Arbeitskräfte für die Gastronomie aus dem Ausland geholt werden, weil dann die Preise in diesen Bereichen herunter gehen. Für die Menschen, die schon in diesen Bereichen arbeiten, wird aber die Konkurrenz größer und die Arbeitgeber reagieren, indem sie schlechtere Arbeitsbedingungen bieten. Das habe ich selbst schon beobachten können.

Sie gestehen der Migration aber auch positive Effekte zu.
Wenn mehr Menschen hier herkommen und die Bevölkerung wächst, wächst natürlich auch die Nachfrage. Wenn man auf die zusätzlichen Menschen außerdem mit einem öffentlichen Investitionsprogramm reagiert, wie wir es etwa 2016 gesehen haben, dann wird durch Integrationsmaßnahmen wie eine besserer Ausbildung und Kinderbetreuung Beschäftigung aufgebaut und das hat dann positive Auswirkungen auf die Wirtschaft. Ein extremes Beispiel dafür sahen wir in Israel, wo in den 1990er Jahren der Zustrom von einer Million Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion erheblich zur israelischen Wirtschaftsentwicklung beigetragen hat, angesichts des prozentualen Zuwachses in der Bevölkerung.

Bedeutet der Zuzug Hochqualifizierter nicht auch vor allem eine Schwächung der jeweiligen Heimatländer?
In der Tat, das ist natürlich innerhalb der Entwicklungsökonomie, aus der ich ja komme, eine sehr breit etablierte Position – nämlich, dass über den „brain drain“ der Wirtschaft der Sendeländer Qualifikationspotential verloren geht. Dass sich inzwischen ein großer Teil der syrischen Hochschulabsolventen in Europa befindet, ist natürlich eine Katastrophe für die dortige Gesellschaft. Das gilt auch für afrikanische und viele andere Gesellschaften. Es migrieren ja häufig Menschen, die in diesen Gesellschaften überproportional qualifiziert sind, die Ärmsten können es sich meist gar nicht leisten. Wir schwächen dadurch massiv die Ausbildungsbemühungen in diesen Ländern, wenn zum Beispiel Ärzte und andere Hochqualifizierte abwandern.

Wie ließen sich diese abweichenden Interessen der verschiedenen Wirtschaftsräume ausgleichen?
Das ist extrem wichtig. Gerade wenn man Migration skeptisch gegenüber steht, muss man natürlich entsprechende Lösungen anbieten. Aus meiner Sicht ist Entwicklungshilfe im engeren Sinn da nur mäßig hilfreich. Diese läuft ja häufig in Form von Projekten ab, die sicherlich meist sinnvoll sind, die man aber nur begrenzt ausweiten kann. Auch gibt es bestimmte Probleme mit der Absorptionsfähigkeit der betreffenden Gesellschaft. Die wichtigsten Schritte wären aus meiner Sicht in der Außenwirtschaftspolitik zu machen. Es ist immer noch so, dass wir im Rahmen der EU-Außenwirtschaftspolitik, aktuell etwa bei der Aushandlung von Abkommen mit Staaten in Afrika oder Lateinamerika, Handelspartner dazu zwingen, ihre Ökonomien zu liberalisieren, um unseren Unternehmen einen besseren Marktzugang zu ermöglichen. Das halte ich für hochproblematisch. Das muss geändert werden. Wir wissen aus der Entwicklungsökonomie, dass die Unternehmen in diesen Ländern, wenn sie nicht zumindest zeitweise geschützt werden, nicht konkurrenzfähig sind. Eine Änderung dieser Politik kann Deutschland nicht allein erreichen, das geht nur im Rahmen der EU. Aber Deutschland wäre durchaus eine wichtige Stimme. Der zweite Faktor, der für die Migration aus bestimmten Ländern sehr relevant ist, ist der Verzicht auf militärische Interventionen, denn die größeren Probleme, die wir mit Migration in letzter Zeit hatten, entstammen aus dem Kontext von Militärinterventionen, wie etwa in Syrien, Libyen oder dem Irak. Das müsste beendet werden.

Migration bleibt eine Tatsache. Wie ließen sich die von Ihnen angesprochenen negativen Effekte dennoch in beherrschbare Bahnen lenken?
Ich denke, es gibt hier nicht die eine Lösung. Sinnvoll wäre ein Programm mit mehreren Ansätzen. Neben den schon erwähnten Aspekten wäre das etwa eine deutliche Verbesserung der sozialen Bedingungen hierzulande. Wenn man weniger Menschen hat, die arbeitslos sind oder in schwierigen Anstellungsverhältnissen stehen, wäre die Aufnahmebereitschaft für Migration viel größer und es wäre einfacher, die Menschen zu integrieren. Es ist häufig so, dass es den reichsten Gesellschaften, in denen es auch den ärmsten Menschen vergleichsweise gut geht, wie Schweden oder der Schweiz – Deutschland zählt leider nicht darunter, inzwischen haben wir den größten Niedriglohnsektor in der Eurozone, deswegen sind wir in diesem Bereich auch so empfindlich – recht gut gelingt, die Leute zu integrieren. Soziale Verbesserungen hier und in den Sendeländern sind natürlich große Schritte. Man muss sich überlegen, was man in der Zwischenzeit macht. Ich denke, man sollte mit den Ländern, aus denen viele Menschen kommen, ein System von Migrationspartnerschaften entwickeln, so wie es etwa die Schweiz macht, indem man diesen beispielsweise befristete legale Migrationswege anbietet, etwa über Studienplätze oder Praktika. Im Bezug auf das Asylsystem wäre es viel sinnvoller, in den entsprechenden Ländern Anträge zu stellen, als auf die gefährliche Reise zu gehen. Wie gesagt: Man muss unterscheiden zwischen den langfristigen, großen Aufgaben und denjenigen, die am dringlichsten sind, um den Migrationsdruck durch befristete, legale Migration zu lösen.

Gerade im linken Spektrum gilt die freie Wahl des Lebensortes als Menschenrecht und die Aufnahme von Migranten als moralische Verpflichtung. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?
Das ist natürlich für Linke ein viel größeres Problem als für die Rechte. Die können einfach sagen „Das interessiert uns nicht“. Aber für uns Linke ist Solidarität eine Kernnorm. Ich bin kein Spezialist für die entsprechenden Fragen der Politischen Philosophie und habe mir lange den Kopf zerbrochen, wie man das auf die Reihe bekommt. Was ich sehr hilfreich fand, war das Konzept der „Layered Obligations“, zu deutsch „Abstufungen der Solidarität“, das der englische Publizist David Goodhart entwickelt hat. Er sagt, dass wir definitiv eine Solidaritätsverpflichtung haben, manchen Menschen gegenüber auch eine uneingeschränkte. Darauf folgen aber Abstufungen, von der Familie sich abschwächend über die örtliche Gemeinschaft bis hin zum Staat und international. Wir haben etwa gesehen, dass die Menschen in Westdeutschland durchaus bereit waren, über Jahrzehnte regelmäßig finanzielle Lasten zu schultern, weil sie der Ansicht waren, die Menschen in Ostdeutschland gehören dazu. Im Kontext der Flüchtlingskrise hingegen mussten wir feststellen, dass ein größerer Teil der Bevölkerung nicht mehr bereit war, solche Lasten zu tragen. Das ist natürlich eine andere Position als der radikale Universalismus, der in der Linken ebenfalls weit verbreitet ist, dass nämlich jeder Mensch das gleiche Recht auf den gleichen Lebensstandard hat. Das ist ethisch gesehen natürlich eine gute Forderung, und christlich sowieso, aber es ist einfach nicht realisierbar, weder kurz-, noch mittelfristig. Aber das ist in der Linken sehr umstritten.

Wie kommt ihre Argumentation im eigenen Lager an?
Das ist dort natürlich ein hochgradig kontroverses Thema. Mein Buch „Linkspopulär“, das ich letztes Jahr veröffentlicht habe, ist sehr hitzig diskutiert worden. Es gibt Kräfte im linken Spektrum, die offen sind für diese Überlegungen. Ich war vor ein paar Wochen etwa bei der Sommerakademie der Sozialistischen Linken, einer Strömung in der Linkspartei, wo darüber diskutiert wurde. In der SPD gab es am Anfang ebenfalls eher ablehnende Reaktionen. Aber das hat sich inzwischen auch geändert. Insbesondere das Ergebnis der Wahlen in Dänemark hat innerhalb der SPD zum Nachdenken geführt und manche stehen inzwischen innerparteilich eher meinen Vorstellungen nahe. Das trifft natürlich auf den völlig verständlichen, häufig emotionalen Standpunkt anderer Gruppen, von daher ist das für die linken Parteien ein riesiges Problem, das sie zerreißt.

Bekommen sie auch Beifall von der falschen Seite?
Das hatte ich ein bisschen befürchtet, muss ich zugeben. Wenn man Aussagen aus dem Kontext reißt, könnten sie durchaus falsch aufgefasst werden. In meinem Buch habe ich etwa von „unkontrollierter Massenmigration“ geschrieben, das würde ich heute nicht mehr machen, weil es ein Begriff ist, der auch in rechten Kontexten verwendet wird. Aber wirklichen Beifall habe ich eigentlich nicht bekommen, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich immer klar gemacht habe, aus einer linken Perspektive zu argumentieren – und „links“ ist in diesen Kreisen ein noch größeres Unding als die Migration. Diesen Leuten ist natürlich klar, dass sie Probleme bekommen, sollte eine der linken Parteien in meine Richtung schwenken. Gerade im Osten versuchen sich die Populisten als die eigentlich sozialen Parteien aufzuspielen. Das ist natürlich nicht ernst gemeint, aber sie können dadurch Stimmen gewinnen, und wenn eine der linken Parteien sagen würde, dass Migration für bestimmte schwächere Gruppen bei uns eine Belastung darstellt, würden sie für die Menschen dort auch wieder eine Alternative darstellen.


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Interview: Christopher Dröge

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