Die Kölner Oper hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Auf der Suche nach einem aktuellen Stoff, der Jugendliche für die Oper begeistern soll, greift man auf die Tragödie „Die Kinder des Herakles“ von Euripides zurück und überträgt das Stück, das von politischer Vertreibung und Asylsuche handelt, ins Heute.
Nach der Ermordung ihre Vaters fliehen Makaria und ihre Geschwister aus der Heimat zu einem alten Freund der Familie nach Deutschland. Auf dem Weg trennen sie sich, um der politischen Verfolgung zu entgehen. Makaria erreicht als erste ihr Ziel. Kaum angekommen, verliebt sie sich Hals über Kopf in den Sohn des Hauses, doch das Glück währt nicht lange: Die Verfolger sind ihnen auf der Spur. Als die anderen Geschwister eintreffen, wird es zu gefährlich und sie müssen fort, doch Makarias Freund will die Trennung verhindern: Aus Liebe wird er zum Verräter. Die Verfolger spüren die Flüchtlinge auf und erschießen sie.
Während die Oper die Flucht dreier Jugendlicher in Verbindung mit einer Liebesgeschichte in den Mittelpunkt rückt, geht es in dem antiken Drama um die staatspolitische Dimension der Flucht der Kinder des Herakles, die einen Krieg zwischen Athen und Argos heraufbeschwört. Makaria opfert sich und ermöglicht so den Sieg Athens und die Rettung ihrer Geschwister, die Nachfahren des sagenhaften Herakles. Von dem antiken Drama und seinen Hintergründen ist somit nicht viel übrig geblieben, was der Untertitel von „Border“ schon ankündigt: Jugendoper nach einem Fluchtplan von Euripides.
Die Opernfassung sucht bewusst nach einer Annäherung an die Erlebniswelt Jugendlicher: Im Text von Stephanie Schiller finden sich ebenso Wendungen der Alltagssprache („Lass mich in Ruhe, Alter“, „Verpiss dich“) wie sentimentale Romantizismen („Dein Kuss so süß, dein Kuss so bitter“). Die Musik Ludger Vollmers setzt auf Emotionen, um Jugendliche mit einem Mix aus Weltmusik, großem Kino und Musical in ihren Hörgewohnheiten abzuholen: Existentielle Bedrohung, Heimatlosigkeit und Verzweiflung bringen die Chöre mit Anklängen an Carl Orff effektvoll zum Ausdruck, ein Liebesduett beschwört die Gefühle der ersten großen Liebe. Der (Bewegungs-)Chor ermöglicht Jugendlichen, als Darsteller mitzuwirken und sich nicht nur singend, sondern auch szenisch in das Stück einzubringen.
Vollmers Oper „Gegen die Wand“ nach dem gleichnamigen Film von Fatih Akin wurde 2008 mit großem Erfolg am Theater Bremen uraufgeführt, 2009 folgte mit „Schillers Räuber – A Rap'n‘Breakdance Opera“ ein Projekt, das zwischen den Kulturen vermitteln will.
Die Suche Jugendlicher nach Identität im kulturellen und politischen Spannungsfeld auch im Musiktheater zu thematisieren und damit ein neues Genre, nämlich Jugendoper zu schaffen, ist sicherlich ein großer Verdienst, auch wenn in diesem Fall der Stoff eine differenziertere Bearbeitung verdient hätte.
„Border“ I Oper Köln, Palladium I 23.-25.5. I www.operkoeln.com
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