Ivo Dimchev, geboren 1976, ist ein Choreograph und Performanceartist aus Bulgarien. Seine Kunst ist kunterbunt, extrem und wurzelt im Physischen Theater. Hierbei liebt er es die herkömmlichen Grenzen des Geschmacks zu überschreiten und verbindet gekonnt Kunst, Theater, Tanz und Musik.
Der bulgarische Extremkünstler analysiert in seiner neuen Performance „P Project“ das Wesen des Kapitalismus, sucht nach der Essenz des Theaters und stößt dabei an die Grenzen unserer Scham. Aufgeführt wird das Stück im Rahmen der Globalize:Cologne. Die Idee ist eigentlich so simpel, wie genial: Man nehme 1000€ in die Hand und gebe jedem ein bisschen davon ab, der sich traut auf die Bühne zu gehen, um sich zum Affen zu machen. Belohnt werden die kurzen Auftritte des Publikums mit Geldsummen zwischen 20 und 250€.
Kunst ist es wert, dafür zu bezahlen.„I'm disgusted of artists who are exploiting their art for free“, erzählt Dimchev. Und so bekommt an diesem Abend jeder die Gelegenheit auf die leere weiße Bühne zu treten und sie mit Schauspiel, Tanz, Erotik und Poesie zu befüllen. Das Konzept der Performance lässt die herkömmlichen Grenzen zwischen Zuschauer und Künstler vollends verschwinden. Die vierte Wand wird nicht nur durchbrochen – sie existiert gar nicht erst.
Wie er da so auf der Bühne steht, erinnert Dimchev an diesem Abend ein bisschen an Tim Curry aus The Rocky Horror Picture Show: geschminkt, halb nackt, in Stöckelschuhen und mit Perücke, nur leicht bekleidet mit einem orangen Seidentuch und einem Perlentanga. Wenngleich er an diesem Abend der Puppenspieler ist, der die ahnungslosen Zuschauer geschickt manipuliert und nach seiner Pfeife tanzen lässt, so drückt er jedoch mit seiner Erscheinung aus, dass auch er selbst angreifbar und verletzlich ist und sich keiner zu schämen braucht.
Zu Beginn der Show wirkt alles noch sehr harmlos. Alle fünf Minuten dürfen mehrere neue Zuschauer auf die Bühne. Zwei davon sollen für 20€ ihre spontanen Eingebungen auf den Computer eintippen. Die geschriebene Poesie nimmt Dimchev in Echtzeit als seine gesangliche Vorlage und zaubert daraus ein gekonntes Musikstück. Auf der Mitte der weißen Bühne tanzt ein weiterer Gast – mehr, oder weniger talentiert – eine Art Stepptanz zu der Musik von Dimchev. Er selbst befindet sich während der Gastperformances seiner Zuschauer am Rande der Bühne und begleitet diese humorvoll und mit musikalischem Witz.
Je weiter die Performance zeitlich voranschreitet, desto fordernder und schamloser werden jedoch die Anweisungen von Dimchev – aber desto höher werden auch die Belohnungen für die Gastauftritte der Zuschauer. „Now I would like that two of you come to the stage and kiss each other for five minutes“, fordert er. „Each of you will get 60 €, but you have do it without your top“. Eine Asiatin aus dem Publikum springt abrupt auf und geht Richtung Bühne – sie ist bereit für fünf Minuten eine wildfremde Person vor dem gesamten Publikum leidenschaftlich zu küssen, und das Oberkörperfrei. Ein weiterer Freiwilliger wird schnell gefunden.
Im Publikum schwenkt die Stimmung ins Ekstatische. Es wird viel verschmitzt gekichert, die Besucher sind erotisiert. Zeitgleich aber auch verschämt. Das gedankliche Spiel dort selbst auf der Bühne entblößt und küssend zu stehen, ist viel zu nah und greifbar, um es abstreiten zu können. Man fühlt mit den Protagonisten des Abends so sehr mit, als würde man dort selbst halbnackt auf der Bühne stehen.
Der Höhepunkt des Abends ist eine inszenierte Sexszene. Für insgesamt 500€ möchte Dimchev, dass zwei Zuschauer auf die Bühne kommen, um dort auf einer Matratze mit weißem Laken den Geschlechtsakt vorzuspielen. Nackt und ohne einen Fetzen Stoff am Körper. Man sieht den Zuschauern den Schock und die Faszination in den Gesichtern an. „Verlangt er das jetzt wirklich?“, „Wer macht denn so was?“, oder „Soll ich es vielleicht tun?“ Es dauert zwar einige Minuten, aber auch hierfür werden zwei Freiwillige gefunden. Der Rest obliegt der Fantasie des Lesers.
Die Performance von Ivo Dimchev ist ein geniales Werk des authentischen und improvisierten Theaters. Bei diesem Konzept ist garantiert, dass jeder Abend eine einmalige Erfahrung wird. Obwohl Dimchev die Rolle der fädenziehenden und choreographierenden Dragqueen einnimmt, überlässt er doch die Bühne den Amateuren, um Kunst zu schaffen und zu gestalten. Man könnte zwar meinen, dass die Qualität des Abends zwangsläufig mit der Freizügigkeit und Geldgier des Publikums steht und fällt – aber dem ist nicht so. Dimchev schafft es gekonnt mit seinen schmeichelnden Worten, das Publikum um den Finger zu wickeln und nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Zwischenzeitlich fragt man sich tatsächlich, ob er nicht selbst der eigentliche Zuschauer an diesem Abend ist, und wir nur die Puppen sind, die seiner Belustigung dienen.
Ein Stück das unter die Haut geht, mit den Grenzen der Schamlosigkeit spielt und uns zwangsläufig mit der Frage konfrontiert: „Was würdest du für Geld alles tun?“ Zwar sucht Ivo Dimchev auf der Oberfläche nach dem prostituierendem Charakter des Kapitalismus. Findet aber eigentlich eine wunderschöne, witzige und würdigende Antwort auf die Essenz der darstellenden Künste. Denn Kunst ist Arbeit, und die gehört entlohnt. Und so frage ich mich im Nachhinein, ob ich nicht doch lieber diese 250€ verdient hätte.
„P Project“ von Ivo Dimchev | Di 20.10. 21 Uhr | Alte Feuerwache, Köln
Weitere Termine der Globalize:Cologne: www.freihandelszone.org
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Queerer Gabelstapler
„Jungmann // Jungklaus“ in der Tanzfaktur
Einfach mal anders
Das stARTfestival der Bayer AG in Leverkusen geht eigene Wege – Festival 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Emotionale Abivalenz
„Sohn meines Vaters“ in Köln – Theater am Rhein 01/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in der Alten Feuerwache Köln – Bühne 01/24
Tanz auf Augenhöhe
„Chora“ in der Tanzfaktur – Tanz in NRW 12/23
Eine Sprache für Objekte
Bundesweites Festival Zeit für Zirkus 2023 – Tanz in NRW 11/23
Der Atem des Films
Das Festival „Edimotion“ holt die Monteure des Films ins Rampenlicht – Festival 10/23
Die Sprache der Bewegung
Die Comedia lockt das junge Publikum zum Tanz – Tanz in NRW 10/23
Überleben im männlichen Territorium
Festival Urbäng! 2023 im Orangerie Theater – Prolog 09/23
Theatrales Kleinod
Neues Intendanten-Duo am Schlosstheater Moers ab 2025 – Theater in NRW 04/24
Neue Arbeitszeitregelungen
Theater und Gewerkschaften verhandeln Tarifvertrag – Theater in NRW 03/24
„Der Tod ist immer theatral“
Theatermacher Rolf Dennemann ist gestorben – Theater in NRW 02/24
Standbein und Spielbein
Pinar Karabulut und Rafael Sanchez gehen nach Zürich – Theater in NRW 01/24
Das diffamierende Drittel
Einkommensunterschiede in der Kultur – Theater in NRW 12/23
Neues Publikum
Land NRW verstetigt das Förderprogramm Neue Wege – Theater in NRW 11/23
Analoge Zukunft?
Die Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund eröffnet ihren Neubau – Theater in NRW 10/23
Tausch zwischen Wien und Köln
Kay Voges wird Intendant des Kölner Schauspiels – Theater in NRW 09/23
Folgerichtiger Schritt
Urban Arts am Theater Oberhausen – Theater in NRW 08/23
Neue Allianzen
Bühnen suchen ihr Publikum – Theater in NRW 07/23
Interims-Intendant für den Neuanfang
Rafael Sanchez leitet ab 2024 das Schauspiel Köln – Theater in NRW 06/23
And the winner is …
Auswahl der Mülheimer Theatertage – Theater in NRW 04/23
Knappheit und Kalkulation
Besucher:innenzahlen am Theater steigen – Theater in NRW 03/23