In einem Supermarkt am Ende der Welt hocken drei Frauen und ein Tausendsassa und schlagen die Zeit tot. Halbleere Regale signalisieren, hier tobt kein Ansturm mehr, hier ist die Heimat der leblosen Einkaufskörbe. Fast bewegungslos wie Butho-Tänzer betreten die vier nacheinander den Raum, in dem sich Tücken und Abgründe des amerikanischen Traumes zeigen werden, so die Idee von Regisseur Gavin Quinn und den Schauspielern. Zusammen haben sie Stück und Dialoge entwickelt, die drei Frauen haben bereits Werner Schwabs „Präsidentinnen“ gemeinsam gespielt, und das merkt man der Stückentwicklung auch an. Viel von Erna, Grete und Mariedl steckt im Text und viel auch in der Personenentwicklung. Natürlich hat das auch inhaltliche Gründe, in US-Amerika glauben viele an die Erde als Scheibe und dass sich die Sonne um die Erde dreht.
Das performative Spiel „Nō Nō Nō“ in der Bonner Werkstatt zeigt die zähen Tage vor der vermuteten Wiedereröffnung eines abgewirtschafteten Supermarkts um die Ecke. Zu den drei großartigen Damen gesellt sich dafür Manuel Zschunke als Tausendsassa Kevin, der weiß wie man in die weite Welt aufbricht, der alles kann und alles macht und dem doch irgendetwas fehlt. An Daphne (Birte Schrein) ist das Leben längst vorübergerauscht, als Welt bleibt der Einzelhandel und die Hoffnung, dass sich vielleicht noch etwas ändert. Olivia (Ursula Grossenbacher), die Chefin von Nichts, hat diese Vision nicht mehr, beobachtet viel und kontrolliert die Übungen, die zur Kundenpflege erlernt und immer wieder wiederholt werden müssen. Ein ziemlich sinnloses Ritual zwischen den 14 Einkaufswagen und 30 gelben Körben, allerdings zeigt Lena Geyer als Mathilda dabei wieder ihr Megatalent zur Darstellung der Skurrilität von Personen, im ausgelaufenen Rotweiß-Mix aus Mayo und Ketchup rutscht sie gekonnt mit Schürze, aber natürlich wieder ohne Gummihandschuh. Hier zeigen sich in der traumatischen Schwerelosigkeit auch Performance-Elemente in der Regie von Gavin Quinn. Das Bild auf der Bühne ist immer in Bewegung, nur manchmal bleibt die Zeit stehen für ein gefrorenes Ensemble aus Mensch und Regal.
In Gesprächen zeigen sich die Narben, die alle vier bereits in sich tragen; Kevin tindert mit einer Spieletheoretikerin aus US-Amerika. Daphnes „Du musst ehrlich sein im Netz“ kommt da gerade recht. Später wird er durch die Einkaufskarren kriechen und eine Endzeitvision generieren. Daphne selbst hat das Grauen in Jugendfreizeiten mit Nonnen erlebt und Mathilda singt dazu einen christlichen Seelen-Choral. Nach der Diskussion, ob echte Tiere im Supermarkt das Kaufverhalten der Kunden positiv beeinflussen, kommt die Frage nach einem Leben nach dem Tod aus den Regalböden gekrochen – die Stellagen haben inzwischen selbst ein Ballett aufgeführt und die Lichtregie taucht die Szenerie kurz in blaues, sterilisierendes Licht. Der Supermarkt sei bei einer Katastrophe der sicherste Ort. Kevin will gar nicht mehr in die Staaten und die Frage „Beten oder nicht“ spaltet das Quartett. Olivia outet sich als Fatalistin, alle hatten irgendwie eine Nahtoderfahrung. Kein Wunder, am Schluss zeigt das Lebensmittelgeschäft seinen wahren Inhalt.
„Nō Nō Nō“ | R: Gavin Quinn | Mi 6.6., Mi 20.6., Do 28.6. 20 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
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