Ist das nur der viel beschriebene Mediziner-Sarkasmus oder die endgültige Ausrichtung des Gesundheitswesens nach kapitalistischen Regeln? Zwei Ärzte (Philipp Engelhardt, Sindy Tscherrig) mit dem Namen Dr. Schneider stehen am Bühnenrand und preisen dem Publikum ihre Produktpalette an: Live-Transplantation, Blutwäsche, Organschnipselei – alles steht auf der medizinischen Speisekarte. Der Patient-Konsument muss nur wählen. Dazwischen allerdings schütteln die knalligen Schläge von Drummer Simon Camatta das Duo kräftig durch, quasi akustische Stromschläge, die ihre Körper erzittern lassen.
„Staying alive“, das als Koproduktion des Sommerblut-Festivals mit dem Freien Werkstatt Theater herauskam, ist allerdings kein Ärztedrama, sondern ein Abend über Organtransplantation. Regisseurin Barbara Wachendorff hat wie bereits im vergangenen Jahr bei ihrem Stück über Demenz mit Schauspielern und Laien zusammengearbeitet. Da ist zum Beispiel die 16jährige Luci Löffler, die innerhalb von drei Jahren bereits 33 OPs über sich ergehen ließ, nur um einen neue Niere zu bekommen. Sie führt ein Zwiegespräch mit sich selbst als Wiedergeborener auf dem Bildschirm, macht die Unsicherheit und das Warten auf das Organ anschaulich und berichtet über gesundheitliche Probleme nach der Transplantation. Ihre Mitstreiter Gerhard Häck und Petra Schmid haben ähnliche Geschichten zu erzählen. Vor allem Petra Schmid kennt die sozialen Härten, die eine Transplantation mit sich bringt: Job weg, Wohnung demnächst auch und dann auch noch Druck von der Krankenkasse. So unterschiedlich die Erzählungen auf der mit Matratzen in Organ-Form ausgelegten Bühne von Birgit Angele vorgetragen werden, so unterschiedlich sie szenisch eingebunden sind, ihre Authentizität beglaubigt den Blick, den die Produktion auf diese privaten Lebensgeschichten wirft.
Wie immer bei solchen Abenden ist der Informationsgehalt hoch. Man erfährt, dass rund 11.000 Menschen auf ein Spenderorgan warten; man erfährt etwas zum neuen Transplantationsgesetz oder zur Situation in anderen europäischen Ländern. Nur halb belichtet und deshalb nicht gelöst bleibt an dem Abend die Ebene der Ärzte. Zwar vermeiden Barbara Wachendorff und Dramaturg Joachim Henn simplifizierendes Mediziner-Bashing, lassen die beiden wie Hungrige nach dem klingelnden Telefon gieren, zeigen das Mitleiden mit den Patienten oder die Eigenwilligkeit, wenn sie eine Organentnahme einfach anordnen – nichtsdestotrotz kommt das Dr. Schneider-Duo kaum über typisierte Weißkittel hinaus. Ihre moralischen Zwänge bleiben Behauptung, ihr Engagement Wortgeklingel. Gerade nach den Skandalen um Organspenden wäre hier eine klarere Position angebracht gewesen – vielleicht auch ein authentischer Widerpart zu den Krankengeschichten. Trotzdem ein Abend, der die Aufmerksamkeit auf ein unterschätztes Thema lenkt und die Dringlichkeit des neuen Transplantationsgesetzes nochmals deutlich macht.
„Staying alive“ | R: Barbara Wachendorff | Sommerblut Kulturfestival/Freies Werkstatt Theater | keine weiteren Vorstellungen
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